„Die Jahre lehren vieles, was die Tage niemals wissen.“
Zwischen Abschied und Neubeginn.
Die Luft war kalt und roch nach Schnee, auch wenn keiner fiel. Die Straßenlaternen warfen ein gelbes Licht auf das Pflaster, das glänzte, als wäre es aus Glas. In den Fenstern der Häuser leuchteten kleine Sterne und Lichterketten, manche flackernd, manche gleichmäßig wie Herzschläge. Der Samstag vor dem dritten Advent – ein Tag, der sich anfühlte, als wäre die Zeit langsamer geworden, als würde alles darauf warten, in einen langen Winterschlaf zu sinken. Ein leichter Wind wehte, trug den Geruch von Tannen und Holzrauch mit sich, und irgendwo spielte jemand Klavier. Die Melodie war gedämpft, bruchstückhaft, kaum mehr als eine Ahnung. Der Regen fiel in feinen Tropfen, so leicht, dass er sich wie ein Schleier über die Welt legte. Die Schritte auf dem nassen Pflaster klangen gedämpft, und die Geräusche der Stadt waren kaum mehr als ein Wispern. Die Uhr auf dem Marktplatz schlug fünf. Langsam, bedächtig, als wüsste sie, dass die Tage kürzer und die Nächte tiefer geworden waren. Ich blieb stehen. Der Gedanke kam leise, fast unbemerkt: Was, wenn ich noch ein wenig länger hier stehen bleibe? Wenn ich mir die Zeit nehme, die ich brauche? Ein Auto fuhr vorbei, ein alter Volvo, das Scheinwerferlicht zuckte wie ein Blitz in der Dunkelheit. Dann ging ich weiter, langsam, den Kopf gesenkt, die Hände tief in den Taschen. Der Regen fiel leise, fast sanft, und die Schritte auf den nassen Steinen klangen wie das Ticken einer Uhr, die nicht mehr ganz richtig ging.
Das Jahresende ist eine seltsame Zeit. Es ist, als würde die Welt für einen Moment innehalten, nur um sich dann langsam umzudrehen und auf das zu blicken, was hinter ihr liegt. Die Tage scheinen erfüllt von einer Art Schweigen, das die Luft durchzieht wie ein Schleier. Man sieht Bilder vor sich, Fragmente des Jahres, das langsam zur Vergangenheit wird. Gesichter, Augenblicke und Erinnerungen tauchen auf, verweilen für einen Moment, um dann wieder zu verschwinden. Zahlen werden genannt, Statistiken geschrieben, Worte wie „Gewinn“ oder „Verlust“ fallen. Es sind Worte, die klar klingen sollen, aber oft nichts als Leere hinterlassen. Die Straßen sind an den Abenden stiller geworden, als hätten sie selbst genug vom Dröhnen der Schritte und dem Murmeln der Menschen. Ein Bus hält an der Haltestelle, sein Motor brummt gedämpft, und für einen Augenblick ist da Bewegung, bevor alles wieder in die Stille zurückfällt. Es ist diese Stille des Dezembers – eine, die bleibt, nachdem die letzten Listen geschrieben, die ersten Resümees gezogen und die letzten Bilder betrachtet wurden. Es ist keine Stille, die beruhigt, sondern eine, die auffordert, hinzusehen – wirklich hinzusehen. In diesem letzten Monat spürt man die Zeit. Nicht als flüchtigen Moment, sondern als etwas, das schwerer auf den Schultern liegt. Und während das Jahr langsam verblasst, bleiben trotzdem Frage offen, die sich erst später von selbst beantworten werden: Was bleibt von alledem? Und was war nur ein flüchtiger Hauch, der sich schon im nächsten Augenblick im Nichts auflösen wird?
2024 ist für mich das Jahr der leisen Abschiede. Manche Dinge gingen zu Ende, weil ihre Zeit gekommen war. Andere, weil Entscheidungen getroffen wurden, die am Ende genau darauf hinausliefen. Es waren keine lauten Enden, keine voller Zorn oder Groll. Kein Kampf, kein Festhalten. Stattdessen ließ ich los. Alles und jeden. Es war, als hätte die Zeit selbst entschieden, was bleiben darf und was gehen muss. Ich habe mich nicht dagegen gewehrt. Eine der wichtigsten Entscheidungen dieses Jahres, über die ich sprechen möchte, war die, meine Selbstständigkeit aufzugeben. Ich habe das Kapitel geschlossen, die Tür hinter mir zugezogen. Nun stehe ich auf einem Flur, umgeben von Türen, von Möglichkeiten, die darauf warten, geöffnet zu werden. Es ist ein merkwürdiges Gefühl – ein Moment des Stillstands, der sich zugleich wie ein Neubeginn anfühlt. Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, mir Träume zu erfüllen, die ich lange vor mir hergeschoben habe. Vielleicht ist es die Zeit, Risiken einzugehen, Dinge zu wagen, die bisher immer auf später verschoben wurden. Denn mit jeder Sekunde, die verstreicht, spüre ich, dass auch meine Zeit verrinnt. Und zum ersten Mal begreife ich wirklich, dass sie begrenzt ist. Nicht nur als abstraktes Wissen, sondern als eine Tatsache, die sich in jeden Tag, in jede Entscheidung einschreibt.
Der Nachmittag wurde zum Abend, und mit ihm kam die Dunkelheit, die sich unaufdringlich über die Straßen legte. Die Lichter der Stadt wurden heller, schärfer, und doch schienen sie etwas zu verbergen, anstatt es zu erleuchten. Ich ging weiter, die Schritte gleichmäßig, wie ein innerer Takt, der mich durch diese Stille führte. Es war eine Stille, die nicht leer war, sondern gefüllt mit einer seltsamen Erwartung. Nicht die Art von Erwartung, die etwas unmittelbar Bevorstehendes ankündigt, sondern jene, die in der Luft liegt, wenn man weiß, dass sich Dinge verändern – langsam, unmerklich und doch unwiderruflich.
Es waren die kleinen Dinge, die mir an diesem frühen Abend auffielen. Das leise Quietschen eines Fahnenmastes, dessen Flagge sich im Wind bewegte. Die Fenster, hinter denen Leben stattfand – helle Quadrate, wie Bühnen, auf denen Menschen Geschichten erzählten, sich liebten, sich stritten oder einfach nur existierten. Ein Hund bellte in der Ferne, und sein Echo vermischte sich mit dem Klang einer einsamen Fahrradklingel, die sich durch die Dunkelheit kämpfte. Ich blieb vor einem Schaufenster stehen. Es war ein altes Geschäft, das seit Langem geschlossen war. Hinter dem verstaubten Glas lagen Dinge, die einst jemandem etwas bedeuteten – eine alte Schreibmaschine, ein Plattenspieler im Koffer, Bücher mit abgegriffenen Einbänden. Ich stellte mir vor, wie es wäre, diese Dinge in den Händen zu halten, ihre Geschichten zu kennen, ihre Vergangenheit zu spüren. Doch dann dachte ich daran, wie oft wir an Dingen festhalten, die wir längst loslassen sollten.
Wieder kam ein Gedanke wie ein Flüstern: Wie viele Geschichten hatten wohl in diesem Jahr begonnen? Und wie viele waren zu Ende gegangen – still, unbemerkt? Plötzlich erschien mir der Dezember nicht nur als eine Zeit der Rückblicke, sondern auch als eine des Loslassens – von Erwartungen, von alten Mustern, von Dingen, die keinen Platz mehr im Leben hatten. Der Regen war stärker geworden, aber ich spürte ihn kaum, nur die kalte Nässe, die durch meine Jacke drang und sich wie ein sanfter Tadel der Natur anfühlte: Ich konnte nicht ewig hier stehen. Und doch hatte ich das Gefühl, mich nicht bewegen zu können – nicht jetzt, nicht in diesem Moment, der sich anfühlte wie ein flüchtiges Gleichgewicht zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Mitunter ist die Zeit seltsam. Dann fühlt sie sich an wie ein Fluss, der nicht mehr weiß, in welche Richtung er fließen soll. Und ich komme mir vor wie ein einsamer Wanderer am Ufer, der dabei zusieht, wie die Strömung langsam, fast zögerlich, neue Wege findet.