„Das Glück kommt zu denen,
die aufhören zu warten und anfangen, das Beste aus dem Moment zu machen.“

UNBEKANNT

Der Winter.

Der Winter ist ein unpünktlicher Gast. Ein Melancholiker, der sich Zeit lässt, der nie den Moment wählt, den wir uns wünschen. Zu Weihnachten erwarten wir ihn sehnsüchtig, schmücken die Straßen mit Lichtern, decken den Tisch für ihn, als würde er tatsächlich kommen. Aber er kommt nicht. Die Tage bis zum Fest vergehen, und wir warten vergeblich. Stattdessen gibt es Regen, graue Wolken und matschige Wege. Er kommt erst später, wenn die ausrangierten Weihnachtsbäume längst auf den Bürgersteigen liegen, wenn die Kerzenwachsreste von den Fensterbänken gekratzt wurden und der Duft von Zimt und Orangen aus den Häusern verschwunden ist. Dann plötzlich ist er da, legt sich leise über die Landschaft, als wollte er sich entschuldigen. Der Schnee fällt langsam, deckt die Wege zu, löscht die Spuren, die das alte Jahr hinterlassen hat, und legt die Welt in einen Zustand, der wie ein Anhalten wirkt. Vielleicht ist das sein Wesen? Unberechenbar, leise, ein wenig schroff. Vielleicht ist er gar kein Begleiter der Feste, kein Gefährte der Freude. Er kommt für sich allein, für die Stille, und für die Einsamkeit, die er in den stillen Wäldern hinterlässt. Und wenn wir ihm begegnen, wenn wir durch den Schnee spazieren und den Atem vor unseren Lippen sehen, dann begreifen wir, dass er nicht zu spät ist – sondern einfach nie für uns bestimmt war.

Natürlich. Der Winter kam. Spät wie immer. Irgendwie hatte ich mir angewöhnt, ihn als Störenfried zu sehen. Aber an diesem Samstagmorgen war es anders. Es lag eine ungewöhnliche Ruhe in der Luft. Der Schnee lag wie ein stilles Versprechen auf den Wegen, den Ästen der Bäume und den Dächern der Häuser. Ich zog meine Stiefel an, nahm die Leine des Hundes und ging mit ihm hinaus. Es war kalt. Diese Art von Kälte, die einem nicht in die Haut, sondern direkt in die Gedanken kriecht. Der Himmel war hell, aber ohne Leben – ein weißer Vorhang, der alles einhüllte. Ich folgte dem Weg durch den Wald, an dessen Rand der Schnee von den Schuhen der anderen Spaziergänger bereits zertrampelt war. Der Hund zog manchmal an der Leine, schnupperte an einer Spur, während ich mich fragte, warum ich mich überhaupt hinausgewagt hatte. Natürlich war es wegen des Hundes.

Und dann sah ich sie. Sie saß auf einer alten Holzbank, die halb unter einer Schneehaube verschwunden war. Eine Frau, klein und schmal, mit einem Mantel, der zu groß für sie wirkte. Ihr Gesicht war rot vor Kälte, aber sie schien es nicht zu bemerken. Neben ihr stand eine Thermoskanne, und in ihren Händen hielt sie ein kleines, abgenutztes Notizbuch. Sie schrieb, langsam, fast andächtig, als hätte sie alle Zeit der Welt. Ich wollte weitergehen, so wie ich es immer tat, wenn ich jemanden traf. Menschen bedeuteten Gespräche, und Gespräche bedeuteten Verpflichtung. Aber sie blickte auf und lächelte. Es war kein forderndes Lächeln, keines, das eine Antwort verlangte. Es war einfach da, wie der Schnee oder die Bäume, ein Teil dieses stillen Nachmittags.

„Schön, nicht wahr?“ sagte sie schließlich.
Ihre Stimme war ruhig, fast sachlich, und ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass sie mich meinte.
Ich nickte, unsicher, ob sie mehr erwartete.
„Ja“, sagte ich dann, „es ist ruhig.“
Sie schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein, klappte ihr Notizbuch zu, legte es vorsichtig auf ihren Schoß und sah mich an. „Die meisten Menschen mögen den Winter nicht“, sagte sie.
„Sie finden ihn zu kalt, zu dunkel. Aber ich glaube, sie sehen nicht genau hin.“

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Sie sprach weiter, als hätte sie meine Unsicherheit erwartet.
„Als ich ein Kind war, verbrachte ich die Winter immer hier draußen. Mein Vater hat uns in den Wald mitgenommen, wir haben Spuren im Schnee gesucht, gelernt, welche Tiere hier leben. Ich erinnere mich, dass er immer sagte, der Winter sei wie ein altes Buch. Still, ein wenig verstaubt, aber voller Geschichten, wenn man bereit ist, die Seiten umzublättern.“

Ich wollte etwas erwidern, vielleicht eine höfliche Bemerkung über die Schönheit der Natur machen, aber sie sprach weiter. Ihre Stimme hatte etwas Beruhigendes, etwas, das mich zwang, stehenzubleiben. „Mein Mann hat immer den ersten Schnee fotografiert“, sagte sie plötzlich, und ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Er hat gesagt, der erste Schnee sei der einzige, der unberührt bleibt. Wie ein Geschenk, das niemand auspackt.“ Sie verstummte, blickte in den Wald, und für einen Moment war ich mir sicher, dass sie an etwas dachte, das weit weg von diesem Nachmittag lag. Dann drehte sie sich wieder zu mir, ihre Augen waren klar, fast scharf.
„Wissen Sie“, sagte sie, „der Winter kommt nie, wenn wir ihn wollen. Aber er kommt immer genau dann, wenn wir ihn brauchen.“

Ich sagte nichts.
Es war nicht nötig.
Der Hund zog an der Leine, ich nickte ihr zu, und sie lächelte wieder, diesmal mit einem Hauch von Wehmut. Als ich weiterging, dachte ich an ihre Worte. Der Schnee knirschte unter meinen Stiefeln, die Luft war klar, und zum ersten Mal seit Jahren fühlte sich der Winter nicht mehr wie ein Eindringling an. Er war immer noch spät, immer noch unberechenbar, aber vielleicht war das sein Wesen. Vielleicht war er genauso gedacht – ein stiller Begleiter, der mich daran erinnerte, wie wenig wir wirklich brauchen, um die Welt mit neuen Augen zu sehen.

Und während der Hund vor mir herlief, kam mir ein Gedanke: Vielleicht ist es nicht nur der Winter, der so funktioniert. Vielleicht ist es alles im Leben. Wir warten. Ständig. Oder oft. Auf eine Nachricht, die nicht kommt. Auf eine Antwort, die uns retten soll. Auf einen Menschen, von dem wir glauben, dass er uns vollständig macht. Oder auf den perfekten Augenblick, der plötzlich alles verändert. Aber nichts davon passiert so, wie wir es uns ausmalen. Der Winter bleibt ein unpünktlicher Gast, und das Leben ist nicht anders. Ich blieb kurz stehen. Es war fast komisch, wie oft ich versucht hatte, das Warten zu rechtfertigen. Aber jetzt, in diesem Moment, begriff ich, dass es keinen Sinn hatte. Das Warten brachte nichts, und all die Erwartungen, die ich hatte, waren nur Illusionen, die mich lähmten.

Die Wahrheit ist: Es gibt keinen perfekten Moment, keine magische Antwort, keine Rettung von außen. Wir selbst sind die Einzigen, die uns am Ende glücklich machen können. Es ist der Schritt, den wir wagen, der Blick, den wir öffnen, der Atemzug, den wir bewusst nehmen. Alles andere – das Wetter, die Menschen, der Lauf der Dinge – kommt und geht wie der Schnee. Ich zog die Jacke ein Stück weiter zu, sah, wie der Hund im Schnee schnüffelte, und lächelte. Der Winter war hier, spät wie immer, und trotzdem war er genau richtig. Und ich war glücklich. Weil ich aufgehört hatte zu warten.