Es wird Abend, sagt der April.
Und der Mai hört zu.
Wenn der Mai kommt.
Über den Dächern des Dorfes lag ein Meer aus Stimmen, das sich in die Nacht ausbreitete. In den Gärten standen Maibäume, bunt geschmückt, ein Gruß an den Frühling, der sich endlich zeigte. Die Lichter der Nachbarn flackerten wie ferne Leuchtfeuer hinter den Hecken. Zwischen den alten Apfelbäumen hing noch der letzte Rest Tageslicht. Der Himmel hatte ein dunkles Blau angenommen, das fast schwarz war, aber noch nicht Nacht. Irgendwo in der Ferne sang jemand schief ein altes Lied, das wohl jeder kannte. Es war zu laut, zu vertraut, zu spät und genau richtig. Ein Wind ging durch die Hecke, trug den Rauch eines nahen Feuers herüber. Es roch nach Holz und Kohle, nach früheren Sommern, nach den Nächten, in denen man noch glaubte, dass das Leben ewig weitergeht. Ich nahm einen Schluck von meinem Getränk, sah in den Himmel und hörte dem Mai beim Ankommen zu. Für mich kam er nicht mit einem Knall, nicht mit einem Lied, sondern auf leisen Sohlen. Der Hund lag neben meinem Stuhl, den Kopf auf den Pfoten, die Augen halb geschlossen. Ab und zu hob er den Kopf, ließ ihn aber wieder sinken. Ich hatte eine Decke um die Schultern gelegt, nicht weil es kalt war, sondern weil es sich gut anfühlte, etwas um sich zu haben. Und während hinter den Hecken der Mai gefeiert wurde, saß ich einfach nur da. Still, allein, zufrieden.
Diese Nacht fühlte sich an wie ein Abschied, der keinen Namen trug. Es war kein großer Moment, kein schweres Herz, nur ein sanftes Lösen von Dingen, die zu leise geworden waren. Es war, als hätte sich etwas verabschiedet, das lange in mir gelebt hatte. Vorstellungen, Bilder einer Zukunft, die ich einmal für möglich hielt. Nichts war dramatisch, nichts schmerzhaft, es glich eher einem Kleidungsstück, das man irgendwann ablegt, weil es einfach nicht mehr passt. Gleichzeitig dachte ich an die Jahre, in denen ich selbst Teil dieser Nacht war. Mit kaltem Bier in der Hand, Stimmen im Ohr und Geschichten auf der Zunge, die oft keinen Anfang und selten ein Ende hatten. Nächte voller Lachen, übertrieben laut, übertrieben lebendig, als müsste man das Leben austrinken, bevor es jemand anderes tut. Damals war alles lauter, heller, dringlicher. Doch nun saß ich hier. Allein, aber nicht einsam. Der Hund atmete ruhig, die Decke lag schwer auf meinen Schultern. Irgendwo knisterte eine der Feuerschalen, ein Funken stieg auf, tanzte einen Moment in der Luft und verglühte dann. Ich sah ihm schweigend nach. Auf dem Tisch vor mir war ein Ring aus Wasser, dort wo das Glas gestanden hatte. Einer dieser Ringe, die sich mit der Zeit in das Holz graben, wenn man sie nicht wegwischt. Ich strich mit dem Finger darüber, ganz langsam, ohne Grund.
Die Stimmen hinter den Hecken wurden leiser. Nur noch vereinzelt lachte jemand, irgendwo klirrte eine Flasche, und für einen Moment lag eine seltsame Stille in der Luft, wie ein Einatmen nach all dem Lärm. Ich hob den Blick. Ein paar Sterne waren durch das Geäst zu sehen, blass, kaum mehr als ein Flirren. Der Hund hatte sich zusammengerollt. Ich beneidete ihn um diese Ruhe. Dann zog eine Sternschnuppe über den Himmel, schnell, flüchtig, wie ein Gedanke, der zu spät gedacht wurde. Sie verlor sich in der Dunkelheit, und der Wunsch, der zu ihr gehörte, blieb unausgesprochen. Einfach da, irgendwo zwischen Brustkorb und Kehle, still wie alles andere in dieser Nacht. Nicht weit von hier schlug die Kirchturmuhr. Ich zählte die Schläge nicht, ich wusste nur, dass es spät war. Oder früh. Manchmal war das schwer zu sagen. Egal. Der Mai war da. Nicht mit einem Fanfarenstoß, sondern wie jemand, der spät zur Tür hereinkommt, den Mantel ablegt und sich still dazugesellt. Ich spürte ihn nicht, ich wusste es einfach. Der April hingegen war gestorben. Nicht abrupt, nicht zornig, wie man es ihm vielleicht nachsagt, sondern leise, fast zärtlich. Er hatte sich zurückgezogen wie jemand, der merkt, dass seine Zeit vorbei ist. Kein Türenschlagen, kein letzter Aufschrei. Nur ein langsames Verblassen. Die Dämmerung hatte tief eingeatmet, und mit ihr war all das erwacht, was im Licht keinen Platz gehabt hatte. Meine Welt hatte weicher gewirkt in diesem Übergang, als hätte sie etwas losgelassen. Sie hatte sich offener gezeigt, wahrer, fast verletzlich, wie ein Flüstern, das man nur nachts hörte, wenn niemand mehr hinhört außer der Dunkelheit selbst.
Der erste Tag im Mai.
Dieser Morgen war hell. So hell, dass ich mir ihm nicht entziehen konnte. Der Himmel spannte sich weit über das Land, makellos blau, als hätte die Nacht all das Dunkle mit sich genommen. In den Gärten lachten wieder Menschen, irgendwo lief Musik, die mir bekann vorkam, das Klirren von Besteck, das Summen von Gesprächen. Der Hund lag ausgestreckt in der Sonne, sein Fell glitzerte grau im Licht, sein Atem gleichmäßig und friedlich. Ich saß eine Weile einfach nur auf dem Stuhl und ließ es zu. Das Licht, die Geräusche, den Mai. Nichts in mir drängte sich mehr auf. Es gab keine Fragen mehr, keine Unruhe. Ich hatte aufgehört zu warten. Auf Antworten, auf Zeichen, auf Menschen. Vielleicht war die letzte Nacht ein stilles Silvester gewesen, ein Umbruch im Verborgenen, das Ende von alten Geschichten, die ich zu lange mitgetragen hatte, und der Beginn von etwas, das endlich zu mir passte.
Ich hatte verstanden, dass keine Antwort auch eine Antwort war. Dass, wer schweigt, einfach nichts zu sagen hat. Dass nicht jede Stille Tiefe bedeutet, sondern das manche einfach leer ist. Und ich begriff wieder, das Enttäuschung nur das Ende einer Täuschung ist, die man sich selbst zu lange erlaubt hat. Dann stand ich auf, ging ins Haus, öffnete die Fenster. Frische Luft zog durch alle Räume. Ich faltete die Decke zusammen, räumte leere Gläser weg, stellte einen Stuhl zurück an seinen Platz. Und Stück für Stück kehrte etwas zurück, das ich fast verloren geglaubt hatte: Klarheit. Ruhe. Ich selbst. Dann nahm ich die 20-Kilo-Kettlebell in die Hand. Und meine Muskeln begannen zu brennen.