„Weihnachtsmärkte waren für mich immer Orte gewesen, an denen der Glühwein nach billigem Zimt und schlechter Laune roch.“

TORSTEN LUTTMANN

Weihnachtsmarkt in Arnsberg.

Weihnachtsmarkt

Als wir den Weg hinaufgingen, hatte sich die Finsternis längst über den Wald gelegt. Ein tiefes Schwarz, das von den hohen Tannen verschluckt wurde. Nur das matte Glimmen der Lichterketten, verborgen hier und da in den Zweigen, ließ erahnen, dass an diesem Ort etwas geschah. Der Weihnachtsmarkt war keiner im üblichen Sinne. Es war ein Ort, an dem die Dunkelheit und die Stille des Waldes mit dem Flackern des Lebens verschmolzen. Die kleinen Hütten, aus Holz gezimmert, standen wie zufällig verteilt. Von innen fiel warmes Licht auf den nasskalten Boden. Die Geräusche waren gedämpft, als würde der Wald selbst den Klang verschlucken – leises Murmeln, das Knacken von Feuerholz, das sanfte Scheppern von Gläsern. Hin und wieder spielte eine Kapelle Weihnachtsmelodien auf Blechinstrumenten. Der Duft von Harz, Glühwein und geräuchertem Wild lag in der Luft – schwer und doch vertraut, wie eine Erinnerung, die man nicht ganz greifen kann. Zwischen den Ständen bewegten sich die Menschen langsam. Ihre Gesichter waren von den flackernden Flammen beleuchtet, die an verschiedenen Stellen lodernd gegen die Kälte ankämpften. Ein alter Mann verkaufte handgeschnitzte Figuren. Jede von ihnen hatte eine Narbe, einen Riss im Holz, der ihre Geschichte erzählte. Neben ihm bot eine junge Frau selbstgemachte Getränke an, ihre Hände zitterten leicht vor Kälte. Ein Kind, eingehüllt in eine viel zu große Jacke, starrte gebannt auf einen Schwibbogen, dessen Licht die Dunkelheit durchbrach. Es schien, als wäre dieser Moment nicht gemacht für das Hier und Jetzt, sondern für eine Erinnerung, die erst viel später Bedeutung bekommen würde. Dieser Weihnachtsmarkt war kein Ort des Trubels. Er war leise, fast zärtlich. Die Dunkelheit war hier kein Feind, sondern ein Schutz – ein Mantel, unter dem die Menschen für einen Augenblick das fanden, was sie suchten: Wärme, Licht, vielleicht ein wenig Frieden.

Denise fragte mich, ob ich mit ihr auf einen Weihnachtsmarkt gehen wollte. Ich zögerte. Weihnachtsmärkte waren für mich immer Orte gewesen, an denen der Glühwein nach billigem Zimt und schlechter Laune roch. Die Lichterketten spannten sich dort wie klebrige Netze über die Köpfe der Menge, und die Menschen, eingehüllt in dicke Jacken, schoben sich gegenseitig träge vorwärts – wie Teil eines endlosen, ziellosen Stroms. Zwischen den Hütten, die krampfhaft versuchten, etwas von der Magie der Weihnacht zu imitieren, schien alles zu viel. Zu viel Lärm, zu viel Gedränge, zu viel von dieser eigentümlichen Fröhlichkeit, an die niemand wirklich glaubte. Und in den Ecken, wo das Licht schwächer wurde, standen sie – die Gruppen aus Bürokaufleuten, einheitlich in ihrem Versuch, dem Alltag zu entkommen. Ihre Stimmen waren zu laut, ihre Becher mit billigem Glühwein längst kalt, und sie trugen blinkende Plastikgeweihe auf den Köpfen, als könnte das ihre Freiheit symbolisieren. Es war der Abend – vielleicht der eine im Jahr, an dem sie versuchten, das Leben zu spüren, sich aus der Routine zu befreien. Aber das war keine Freiheit. Es war nur ein anderes Gefängnis: ein Kessel aus lärmenden Stimmen, fettigem Essen und dem angestrengten Versuch, sich einzureden, dass dies wirklicher Spaß sei.

Unterwegs im Wildwald Vosswinkel

Dieser Weihnachtsmarkt ist anders“, schwor sie. „Er wird dir gefallen.“
Und nachdem sie mir ein paar Details verraten hatte, willigte ich ein. Als wir auf dem Parkplatz ankamen, begann der Nachmittag schon langsam damit, den Abend zu begrüßen. Hinter den hohen Tannen, Kiefern und Fichten türmten sich einige Wolken auf. Sie wirkten bedrohlich, voll Regen, doch dieser blieb – entgegen den Vorhersagen – aus. Wir gingen über einen kleinen Waldweg, erreichten das Gelände und sahen die ersten Buden. Gemeinsam entschieden wir uns, eine Wildbratwurst im Brötchen mitzunehmen, und spazierten eine Runde durch den Wald.

Im Wildwald Vosswinkel ist die Stille ein eigenes Wesen. Sie atmet, dehnt sich aus und zieht sich zurück, als wäre sie lebendig. Die alten Bäume mit ihren knorrigen Ästen, die wie Finger in den Himmel ragen, sind stille Zeugen der Zeit. Der Boden unter den Füßen ist weich, bedeckt von einem Teppich aus Moos und Nadeln. Es riecht nach Erde, nach Holz, nach Leben und Verfall zugleich. Manche Menschen kommen hierher, um zu fliehen – vor der Welt, vor sich selbst. Andere suchen etwas: Ruhe, Frieden, Antworten. Sie folgen den verschlungenen Pfaden, die sich wie Adern durch den Wald ziehen, manchmal so schmal, dass man glauben könnte, sie seien nur für die Tiere gedacht. Mit etwas Glück stehen plötzlich Wildschweine im Unterholz, starren einen an, als wüssten sie mehr, als man je verstehen könnte. Dieses Glück blieb uns an diesem Tag jedoch verwehrt.

Die Luft war kühl, fast feucht, und wenn der Wind durch die Bäume fuhr, klang es wie ein Flüstern. Vielleicht erzählte der Wald von den Geschichten, die er gesehen hatte: von den Jägern, die kamen, den Kindern, die hier spielten, und den Stunden, die vergingen, ohne dass sie jemand bemerkte. Und dass dem so war, sollte ich erst später bemerken. Da war ein Platz im Wald, an dem die Bäume zurückwichen, als hätten sie Ehrfurcht vor dem, was hier geschah. Dort lag eine Lichtung – still, fast zu perfekt. Es begann wie ein Echo aus der Tiefe des Waldes, ein dumpfes Knacken, das sich wie ein Raunen durch die Bäume zog. Dann das Krachen von Geweihen, ein Klang, roh und präzise zugleich, wie das Schlagen von altem Holz gegen Stein. Jeder Aufprall schien die Luft zu spalten, das Geräusch federte nach, wie ein Ton, der zu groß war, um nur gehört zu werden.

Hirsche bewegten sich wie Schatten auf der Lichtung, ihre Bewegungen schwer und doch von einer unheimlichen Eleganz. Mit jedem Angriff, jedem Zusammenprall wurde der Klang wilder, schneller, als würde die Dunkelheit selbst mitkämpfen. Kein Chaos, sondern ein Rhythmus – uralt, unverändert, ein Klang, der von etwas Tieferem sprach als bloßer Gewalt. Manchmal hörten wir die Hufe, die den Boden trafen, das Knirschen der Blätter und das Ächzen der Geweihstangen, wenn sie sich ineinander verkeilten. Und dazwischen – diese Pausen. Ein Augenblick der Stille, ein leises Scharren, der dumpfe Atem der Tiere. Es war, als hielte die Welt den Atem an, bevor alles von Neuem begann. In der aufkommenden Dunkelheit, wo die Lichtung nur noch schemenhaft zu erkennen war, verschwand der Klang nicht. Er blieb – in den Bäumen, im Boden, vielleicht sogar in der eigenen Brust. Ein Geräusch, das nicht nur gehört, sondern gespürt wurde, als gehöre es mehr zur Natur als man selbst.

Zurück auf dem Weihnachtsmarkt

Als der Abend längst im Wald angekommen war, machten wir uns auf den Weg zurück zum Weihnachtsmarkt. Bald tauchte ein alter Bauernhof aus der Nacht auf, beinahe unberührt von der Zeit. Die Holzbalken der Gebäude waren dunkel und verwittert, die Dächer bedeckt von einer Schicht Moos, die sich mit den Jahren wie ein stiller Schutz über das Gemäuer gelegt hatte. Es war ein Hof, der nichts von der Moderne wollte, der stolz war auf seine Einfachheit. Ziegen liefen frei über den Hof, ihre Silhouetten zeichneten sich gegen das schwache Licht ab, und ein Hund sorgte hin und wieder dafür, dass sie nicht zu weit abschweiften. Sein Bellen war selten, aber eindringlich, ein kurzer Befehl, dem die Tiere augenblicklich folgten. Der Weg vor uns war schmal und still, für Autos unzugänglich, und doch lebendig. Eine Feuerschale brannte am Rand, ihre Flammen warfen zitternde Schatten auf die Bäume. Der Duft von verbranntem Holz hing in der Luft, rau und ehrlich, wie eine Erinnerung an längst vergangene Abende am Kamin.

Als wir den Wald wieder betraten, umgab uns die Stille, nur unterbrochen vom Knirschen unserer Schritte auf dem Waldboden. Schließlich erreichten wir den Platz, an dem der Weihnachtsmarkt aufgebaut war. Er lag da wie eine Insel des Lichts inmitten der Dunkelheit. Eine kleine Kapelle spielte auf ihren Blechblasinstrumenten ein Weihnachtslied. Die Melodie trug sich durch die klare, kühle Luft, sanft und melancholisch, als würde sie die Bäume selbst zum hören bringen. Die Buden, aus Holz gefertigt und mit Tannenzweigen geschmückt, boten alles, was man sich von einem Weihnachtsmarkt wünscht. Es waren keine industriell gefertigten Waren, sondern handgemachte Kostbarkeiten, die Geschichten erzählten. Händlerinnen und Händler, mit roten Wangen und freundlichen Stimmen, präsentierten Wildfleisch, hausgemachte Säfte und Aufstriche, die nach Heimat schmeckten. Hier und da durfte man probieren, und es schien, als habe niemand Eile. Es gab kein Drängen, keine lauten Stimmen – nur das ruhige Miteinander der Menschen, die diesen Ort für einen Moment zu etwas Besonderem machten. Kleine Feuer loderten, ihre Wärme zog die Menschen an wie ein stilles Versprechen. In den urigen Hütten, die an alte Forsthäuser erinnerten, hing der Duft von Holz und Geschichte. Geweihe zierten die Wände, und in einem der Räume prasselte ein Feuer in einer eisernen Feuerschale, die in der Mitte des Zimmers stand. Denise und ich wärmten unsere Hände an einem heißen Getränk, während wir den anderen zusahen, die schmunzelnd das Gewicht eines erlegten Wildschweins schätzten, das es zu gewinnen gab.

Schreib mal 29 Kilo“, sagte ein Vater zu seinem Kind und deutete auf das Papier vor ihm. Das Kind hielt den Stift bereits in der Hand, zögerte jedoch, als Denise leise einwandte: „Es ist leichter, vielleicht die Hälfte.“ Der Vater, überrascht von ihrem Widerspruch, hob eine Augenbraue und erinnerte daran, wie schwer ein ausgewachsenes Wildschwein sein könne.
Doch Denise, in ihrer ruhigen und sachlichen Art, erklärte: „Das hier ist kein ausgewachsenes Tier. Außerdem muss man bedenken, dass es bereits ausgenommen ist.“ Der Vater hielt kurz inne, lächelte dann und sprach zu seinem Kind: „Dann schreiben wir eine andere Zahl.“ Gemeinsam notierten sie ihren Tipp, und auch wir gaben unsere Schätzung ab. Als die tatsächliche Zahl verkündet wurde, lag Denise erstaunlich dicht am Ergebnis. Dennoch reichte es nicht für den Gewinn, jemand anderes wurde gezogen.

Auf diesem Weihnachtsmarkt verlor ich das Gefühl für die Zeit. Es gab kein hektisches Gedränge, kein schrilles Stimmengewirr, nur ein ruhiges Dasein, das sich um mich legte wie eine weiche Decke. Meine Kamera, die ich mitgenommen hatte, blieb unbenutzt, und mein Smartphone versteckte sich die meiste Zeit in meiner Jackentasche. Es war ein Abend für die Erinnerung, nicht für die Technik. Wir schlenderten noch einmal über den Markt, betrachteten die Buden und das, was dort angeboten wurde. Schließlich fanden wir uns in dem Raum wieder, in dessen Mitte das Feuer prasselte. Der Schein der Flammen tanzte auf den Wänden, und die Wärme schien den Abend noch ein Stück näher an uns heranzurücken. Wir aßen eine Kleinigkeit, tranken etwas, und manchmal unterhielten wir uns. Manchmal schwiegen wir – nicht aus Mangel an Worten, sondern weil die Stille selbst alles sagte. Es war jene besondere Stille, die nicht leer ist, sondern erfüllt, wie eine unsichtbare Brücke zwischen Menschen.

Der Mond stand hoch am Himmel, als wir uns schließlich auf den Weg machten. Sein Licht fiel silbern auf die schmalen Wege, und der Wind strich sanft durch die Äste der Bäume, als wolle er uns leise verabschieden. Wir gingen über den alten Waldweg zurück zum Parkplatz, stiegen ins Auto und ließen die Lichter des Weihnachtsmarktes hinter uns. Doch die Eindrücke des Abends blieben – Bilder, Gerüche, Worte, die sich irgendwo tief in uns festsetzten. Es war, als wäre dieser Tag nicht für das Hier und Jetzt gemacht, sondern für eine Erinnerung, die erst später ihre wahre Bedeutung entfalten würde.


Infos zum Wildwald findest Du hier: www.wildwald.de | Denise auf Instagram