Rauch zieht in die Bäume.

Es ist Samstag. Fast Mitte Mai. Die Luft ist mild, der Himmel trüb. Am Rand des Waldes, abseits des Dorfes, steht ein kleines Haus. Fenster aus Holz. Das Dach alt, moosbedeckt.. Wenn Wind aufkommt, klappert irgendwo eine lose Dachrinne. Hinter dem Haus liegt eine Wiese, lang gezogen bis zum Waldrand. Im Sommer grasen hier Rinder, langsam, gleichmütig, als wüssten sie nichts von der Zeit. Jetzt ist das Gras kurz, frisch nach der ersten Mahd und in der Sonne liegt noch der Duft davon. In der Ferne hört man einen Buntspecht schlagen. Gleich neben der Wiese beginnt der Wald. Eine Grenze, die nicht gezogen, sondern gewachsen ist. Dort leben Rehe, Füchse, Dachse und all die anderen Tiere, die man nur dann sieht, wenn man nicht nach ihnen sucht. In dem Haus lebt ein älterer Mann. Jemand, den ich seit vielen Jahren kenne. Einer, der nie viel redete, aber immer etwas zu sagen hatte. Er hat mich gebeten, ihm bei ein paar Dingen zu helfen. Nichts Großes. Holz stapeln. Werkzeuge sortieren. Ein paar Dinge tragen, die er früher mit einem Griff bewegt hat. Jetzt nicht mehr.

Er ist vierundsiebzig. Früher war er Jäger, einer von denen, die immer wussten, wo die Füchse leben und wie das Reh steht, wenn es Wind kriegt. Einer, der nie das Gewehr im Mittelpunkt sah, sondern immer zuerst das Revier und die Tiere, die dort lebten. Einer vom alten Schlag. Kein Erzähler, keiner, der Geschichten aufwärmt. Aber wenn er spricht, hört man hin. Nicht, weil es laut ist, sondern weil es sitzt. Er sagt, ein Jäger wird nicht in dem Moment zum Jäger, in dem er trifft, sondern in dem, in dem er nicht schießt. Wenn er es könnte, aber nicht tut. Weil es nicht passt. Weil es falsch wäre. Weil Leben nicht leicht genommen wird. Nicht von einem, der es verstanden hat. Dann schweigt er wieder, sitzt mit einem schwarzen Kaffee auf der Bank, schaut in den Wald, sagt einen ganzen Gedanken mit einem einzigen Satz. Er redet nicht viel über früher. Und noch weniger über sich. Aber wenn man neben ihm sitzt und er den Blick hebt, weiß man, dass er alles gesehen hat. Nicht dramatisch. Nur wach. Meistens trägt er Hemden mit abgewetzten Kragen. Nie offen, nie wirklich neu, aber immer zweckmäßig. Seine Hände sind groß, rau, die Haut voller kleiner Narben, die nichts erzählen, aber alles sagen. Er hat mich nie gebeten, zu kommen. Er hat gesagt: „Wenn du willst, kannst du mal vorbeischauen.“ Mehr nicht. Aber ich wusste, was er meint.

Als ich ankomme, ist es still. Der Kies unter den Reifen knirscht trocken, das Tor steht offen. Sein grüner Geländewagen steht auf dem Hof. Die Haustür ist angelehnt, nicht richtig offen, nicht richtig zu. Ich steige aus, mache die hintere Klappe auf, Talko springt heraus, schüttelt sich kurz und bleibt stehen. Er kennt den Ort. Er sitzt schon draußen, auf der Bank neben der Garage. Schwarzer Kaffee in der Hand, dampfend, ohne Zucker, ohne Milch. Er hebt den Kopf, sagt kein Wort, nickt nur einmal, leicht. Über der Garage hängt ein Geweih, alt, verwittert, direkt unter dem hölzernen Giebel. Es ist grau geworden vom Wetter, die Spitzen stumpf. Aber es hängt dort nicht als Trophäe. Es hängt dort, weil es dazugehört.

Neben dem Haus, in einem abgezäunten Stück Wiese, tobt ein kleiner Münsterländer. Hell, schnell, aufgeregt. Ich lasse Talko zu ihm. Er bleibt kurz stehen, dann setzt er sich in Bewegung. Zwei Kreise, dann noch einer. Sie spielen, fast schon wild. Trotzdem wie zwei Hunde, die sich kennen. Der Zaun steht dort, weil genau dahinter der Wald beginnt. Und weil dort jetzt Rehkitze liegen. Kleine, gestreckt, geschützt im Unterholz, unsichtbar für den, der nicht weiß, wo. Aber er weiß es. Der Mann. Er hat die Stellen gesehen, ohne dass man sie ihm zeigen musste. Deshalb der Zaun. Auf dem Tisch neben ihm liegt eine halb geöffnete Zeitung, daneben ein Aschenbecher. Die Tasse steht auf einem alten Untersetzer aus Filz, das Muster kaum noch zu erkennen. Und irgendwie riecht es nach Öl und nach Holz, nach etwas, das man nicht genau benennen kann, aber sofort versteht, wenn man einmal dagewesen ist.

Wir stapeln Holz. Frisch gesägt. Innerlich noch feucht. Er sagt, das müsse erst trocknen, zwei Sommer lang, mindestens. Das beste Holz ist das, dass langsam trocknet, sauber geschichtet, geschützt vor Regen, mit Platz zum Atmen. Der kleine Schuppen hinter dem Haus ist voll mit alten Spuren. Kerben im Holz. Ein Haken, an dem früher mal ein Beil hing. Ein Eimer, halbvoll mit rostigen Nägeln. Wir sagen nicht viel. Ich reiche ihm ein paar Scheite, er ordnet sie. Gleicht aus, schiebt nach. Wenn er etwas sagt, dann meist nur einen Satz. Immer kurz. Er erzählt, dass man früher nach dem Schuss den Hut zog. Dass die linke Hand die Waffe führte und die rechte das Wild ehrte. Dass der letzte Bissen nicht für das Tier war, sondern für den Respekt. Dann schweigt er wieder. Man hört nur das Holz, das sich setzt, das Kratzen der Rinde, wenn sie aufeinanderliegt. Später, als es dämmert, macht er den Grill an. Kein Gas, kein Schalter, nur die Glut. Er hat noch ein paar Bratwürste, selbstgemacht. Reh und Schwein, sagt er. Nur Reh wäre zu trocken. Die Mischung ist besser. Talko liegt neben dem Schuppen, ruhig, wach, zufrieden. Der kleine Münsterländer sitzt etwas weiter hinten, beobachtet, aber kommt nicht näher. Es riecht nach Rauch und Fleisch, nach Erde und langsamem Abend. Ich setze mich auf die Bank. Er gießt sich Kaffee nach, aus der Thermoskanne, die schon den ganzen Tag auf dem Tisch steht.

Später sitzen wir am Feuer. Hin und wieder knackt ein Stück Holz, als würde es sich an etwas erinnern. Er raucht eine Zigarette, zieht langsam, schaut in die Flammen. Die Glut spiegelt sich in seinen Augen. Es ist still. Die Art von Stille, die bleibt, wenn zwei wissen, dass es nichts zu sagen gibt und trotzdem reden. Wir sprechen über das, was war. Über das, was sein wird. Und darüber, wie wenig wir überhaupt davon wissen. Er sagt, dass früher manches anders war, aber nicht alles besser. Nur bewusster vielleicht. Dass das Brauchtum nicht dazu da war, Regeln zu machen, sondern Haltung zu zeigen. Dann steht er kurz auf, geht ins Haus und kommt mit einem Buch zurück. Kein altes, kein zerschlissenes. Aber eines, das von alten Dingen erzählt. Von Jägersprache, von Zeichen, von dem, was man nicht aufschreibt, aber an das man sich erinnern sollte. Er schlägt eine Seite auf, zeigt mit dem Finger auf einen Absatz. Er liest nicht vor, er zeigt nur. Ich lese. Dort steht, dass ein Jäger, der einen Hund führt, auch für ihn zu sorgen hat. Dass der Mensch sich mit Worten melden kann, der Hund aber nicht. Und dass der, der beim Schüsseltreiben, dem gemeinsamen Essen nach der Jagd, das Gemeinschaft und Abschluss bedeutet, nur an sich denkt und seinen Hund vergisst, es nicht wert ist, ihn zu führen. Dann lacht er, legt die Hand auf das Buch, schließt es langsam und nimmt einen Schluck Kaffee. Die Zigarette glimmt in seiner anderen Hand. Der Rauch zieht langsam in die Bäume. Talko liegt satt und glücklich unter dem Tisch.

Als das Feuer fast verglüht ist, erhebt er sich langsam. Er klopft den Staub von der Hose, streckt sich ein wenig und schaut in den Himmel, der zwischen den Spitzen der Fichten nur noch in dunklen Blautönen zu erkennen ist. Ich stehe ebenfalls auf, rede nicht, nehme nur Talkos Leine, lasse sie aber locker in der Hand. Er geht noch einmal zum Tisch, nimmt die leere Tasse. Dann bleibt er stehen. Die Zigarette ist längst ausgedrückt, aber der Rauch hängt noch in der Luft. Er schaut mich nicht an, sondern irgendwo ins Halbdunkel.

„Du denkst zu viel über Dinge nach, die längst entschieden sind“, sagt er dann. „Es bringt nichts, an Menschen festzuhalten, die gedanklich längst woanders sind.“ Nicht als Ratschlag. Nicht vorwurfsvoll. Nur ruhig. Mehr wie eine Feststellung.

Ich sage nichts. Er greift nach dem Buch, das noch auf dem Tisch liegt, blättert es kurz durch, legt es wieder hin.

„Weißt du? Ich hab aufgehört, Menschen festhalten zu wollen, die längst gegangen sind.“ Ein Satz, fast beiläufig. Aber er fällt wie etwas Schweres in die Stille. Er sieht mich an, zum ersten Mal an diesem Abend. Nicht lange. Nur gerade genug. Dann nickt er. Nicht zum Abschied. Eher wie ein Punkt am Ende eines Satzes. Ich nehme Talko, gehe zum Auto. Das Tor steht noch offen, wie am Morgen. Hinter mir klackt der Riegel vom alten Gartentor. Nicht laut. Nicht leise. Ein Geräusch, das nicht will, dass man sich umdreht. Der Hund springt in den Kofferraum. Die Nacht ist still. Und irgendetwas in mir ist leichter geworden.