„Wenige Menschen finden zu sich selbst, bevor sie nicht gegen sich selbst gekämpft haben.“
Nicht für die anderen.
Es ist fünf Uhr morgens. Ein Dienstag. Der Himmel ist klar. Man könnte Sternschnuppen sehen, wenn man nach oben schaut. Aber mein Blick bleibt am Boden. Der Lichtkegel der Taschenlampe tastet über den Weg, die Straßenlaternen sind noch dunkel, Frost liegt auf dem Gras, schimmert dort, wo das Licht ihn trifft. Ich höre nichts. Keine Musik. Kein Geräusch, außer meinem Atem, den Schritten. Ich laufe. Nicht schnell, aber stetig. Kälte spüre ich nicht mehr, nur das Brennen in der Lunge. Da ist ein Schmerz, irgendwo tief in mir. Kein körperlicher. Ein anderer. Einer, den man nicht zeigen kann, weil er keine Wunde hinterlässt. Ich beschleunige. Laufe schneller. Zwinge den Körper ins Rennen. Schritt für Schritt. Er beginnt zu protestieren, erst leise, dann lauter. Die Muskeln brennen, die Luft wird schwer, die Beine träge. Das Laktat steigt. Die Muskeln versagen. Der Körper gibt nach, aber der Geist läuft weiter. Dann kippt es. Die Lunge ist aus Stein, das Blut hämmert in den Schläfen. Ein Würgen. Ein Krampf. Ein unkontrollierter Ausbruch. Der Magen entleert sich, als hätte er längst entschieden, dass all das nicht mehr zu mir gehört. Ich knie auf dem frostigen Boden. Die Hände offen. Die Finger taub. Über mir der Himmel. In mir nur noch Stille. Endlich. Kein Gedanke. Keine Erinnerung. Keine Geschichten von dem, was hätte sein können. Nur das Zittern der Muskeln. Das Echo der Anstrengung. Ich atme tief ein. Rieche die Kälte. Irgendwo in der Ferne ein Geräusch. Kommt und verschwindet. Vielleicht ein Auto. Vielleicht etwas anderes. Ein Moment eines anderen Lebens, das meins nicht bemerkt. Ich bleibe. Für einen Moment. Einen Atemzug lang. Dann richte ich mich auf. Ein Schritt. Noch einer. Ich laufe weiter. Nicht schnell, nicht langsam. Einfach weiter. Weil es nichts anderes gibt, das ich tun kann.
Später sitze ich am Küchentisch. Die Hände um eine Tasse Kaffee gelegt, die langsam abkühlt. Draußen ist es noch dunkel. Ein paar vereinzelte Lichter in den Fenstern der Nachbarn, ein Auto, das in der Ferne vorbeifährt. Nichts Besonderes. Ein Dienstag, irgendein Dienstag. Ich denke an den Morgen zurück. Drei Uhr. Ich werde wach. Natürlich werde ich wach. Ich wache immer um diese Zeit auf. Nicht, weil ich muss, sondern weil mein Kopf dann gegen mich arbeitet. Weil die Gedanken keine Reihenfolge haben, weil sie wie Wellen kommen, unkontrolliert, ohne Vorwarnung. Weil sie mich mit Dingen konfrontieren, die ich niemandem sagen würde. Sätze, die schneiden. Die sich tief setzen und dort bleiben. Sätze, die ich niemals einem Freund an den Kopf werfen würde – vorausgesetzt, ich hätte einen. Also stehe ich auf. Sofort. Liegenbleiben ist keine Option. Liegenbleiben bedeutet, dass die Sätze lauter werden, dass sie sich überschlagen, dass sie mich würgen, mich festhalten und wieder zu Boden drücken. Drei Uhr morgens. Ich ziehe mich an, gehe mit dem Hund raus. Der Himmel ist dunkel, der Frost knirscht im Winter manchmal unter den Schuhen. Niemand ist unterwegs um diese Uhrzeit. Ich mag das. Keine Stimmen, keine Erwartungen, kein Grund, so zu tun, als sei alles in Ordnung.
Die ersten Meter sind immer schwer. Der Kopf ist voller Rauschen. Oder als hätte jemand eine alte Kassette zurückgespult. Sätze tauchen auf, überlagern sich, werden lauter. Erinnerungen, nicht chronologisch, sondern wirr, ohne Anfang und ohne Ende. Es gibt kein Muster, keine klare Linie. Nur Gedanken, die sich selbst in doppelter Geschwindigkeit abspielen, sich wiederholen, immer wieder, als könnte ich sie durch bloßes Wiederkäuen verändern. Aber mit jedem Schritt wird das Rauschen leiser. Morgens wache ich oft in einem Meer aus Emotionen auf. Wut. Trauer. Aber vor allem Wut. Sie ist alt, grundlos vielleicht, oder sie hat so viele Gründe, dass es sinnlos wäre, sie aufzuzählen. Wut über Fehler, die ich gemacht habe, über Entscheidungen, die falsch oder sich nie richtig angefühlt haben. Über Möglichkeiten, die ich verstreichen ließ, über Träume, die längst hätten begraben werden müssen, aber immer noch da sind, wie Knochenreste im Sand. Ich denke an das, was ich verloren habe, ohne es zu merken. An das, was ich festgehalten habe, obwohl es längst verschwunden war. Manche Dinge verschwinden leise, wie der letzte Schnee im März. Andere bleiben einfach da, selbst wenn nichts mehr von ihnen übrig sein sollte.
Talko läuft vor, bleibt stehen. Er schnüffelt an einem Grashalm, als würde er eine Geschichte darin lesen. Acht Kilometer. So lange dauert es, bis der Sand in meinem Kopf sich setzt, bis das Chaos im Kopf langsam nach unten sinkt. Erst bleiben nur Bruchstücke zurück, dann fügen sie sich zusammen. Die Gedanken verlieren ihre Schärfe, ihre Lautstärke. Sie sind noch da, aber weniger bedrohlich. Talko bleibt abrupt stehen. Sein Blick folgt einer Bewegung im Feld. Vielleicht ein Reh. Vielleicht nur der Wind. Ich sehe in die gleiche Richtung, aber für mich gibt es dort nichts zu sehen. Vielleicht liegt darin der Unterschied. Ich bin hier draußen, um mich zu entwirren, um das Durcheinander in meinem Kopf zu glätten. Für ihn ist es anders. Er denkt nicht nach, er ist einfach. Er lebt im Moment, in diesem Atemzug, in dieser Sekunde. Ich beneide ihn darum.
Ich gehe weiter, Schritt für Schritt, bis wir zurückkommen. Meistens ist es ca. 4:45 Uhr. Manchmal früher. Ich stelle die Schuhe in den Flur, streiche Talko über den Kopf. Er schüttelt sich, läuft in die Küche, als wäre alles wie immer. Während er frisst, schenke ich mir einen Kaffee ein, lehne mich für einen Moment an die Arbeitsplatte. Der Körper ist müde, aber der Kopf noch nicht. Das hier reicht nicht. Acht Kilometer ordnen die Gedanken, aber sie machen sie nicht leiser. Sie setzen sich nur – wie Staub, der sich jederzeit wieder aufwirbeln kann. Also stelle die leere Tasse ab. Ziehe mich um. Draußen ist es noch dunkel. Der Himmel ist klar. Ich könnte die Sterne sehen, wenn ich nach oben blicke. Aber mein Blick bleibt am Boden. Der Lichtkegel der Taschenlampe tastet über den Weg. Die Straßenlaternen sind noch dunkel. Frost liegt auf dem Gras. Ich laufe.
Der Körper wird müde, aber nur für den Moment. Müdigkeit vergeht. Schmerz vergeht. Gedanken vergehen. Alles vergeht. Ich laufe nicht, weil es mir Spaß macht. Ich treibe keinen Sport, um besser auszusehen oder weil irgendwo ein Ziel auf mich wartet, welches es zu erreichen gilt. Ich laufe oder trainiere, weil es für mich notwendig ist. Weil es das Einzige ist, das funktioniert. Mein Kopf arbeitet gegen mich, wenn ich ihn lasse. Er spricht mit mir in einer Sprache aus alten Fehlern und verlorenen Möglichkeiten, erzählt mir Geschichten, die längst hätten enden müssen. In der Dunkelheit des Zimmers, wenn die Welt noch schläft, werden diese Gedanken laut und unerbittlich. Wenn ich stillhalte, zerlegen sie mich in meine Einzelteile. Also bewege ich mich. Bewegung ist das beste Mittel für mich, um das Karussell zu stoppen. Um die Stimmen zum Schweigen zu bringen. Ich laufe, ich trainiere, bis nichts mehr übrig ist außer dem Rhythmus meines Atems, dem Puls in meinen Schläfen, dem Brennen in den Muskeln.
Die Müdigkeit ist gut, der Schmerz ist gut, weil er alles andere verdrängt. Weil er mich zwingt, im Moment zu bleiben. Die Welt da draußen interessiert sich nicht für meine Gedanken. Sie hält nicht an, wenn ich es tue. Also laufe ich. Also mache ich weiter. Für andere mag das sinnlos erscheinen. Oder übertrieben. Sie sehen keinen Grund darin, morgens um fünf durch die Dunkelheit zu rennen, allein, nur mit den eigenen Schritten als Begleitung. Sie verstehen nicht, warum jemand sich selbst an seine Grenzen bringt, ohne dass eine Medaille wartet, ohne dass jemand am Ziel applaudiert. Aber das ist nicht mehr mein Problem. Nicht alles muss für andere Sinn ergeben. Nicht alles muss erklärt werden. Es gibt Dinge, die macht man einfach, weil man sie machen muss. Weil sie das Einzige sind, was bleibt. Was funktioniert. Und was mich am Ende lachen lässt, weil ich den Kampf gegen mein eigenes Ego wieder einmal gewonnen habe.