„Wer Schwierigkeiten ausweicht, beraubt sich der Möglichkeit, stark zu werden.“
Mut, Schmerz und das Leben.
Es beginnt immer gleich. Ein Knirschen, ein Ruck, und plötzlich setzt sich die Welt in Bewegung. Die Kette greift, zieht dich hinauf, höher und höher, das Sonnenlicht blendet, die Menschen unten werden kleiner, unbedeutender. Du glaubst, du kannst alles sehen, alles verstehen, dort oben, wo die Zeit für einen Moment stillzustehen scheint. Und dann? Der Sturz. Mit einem Mal gibt es keinen Halt mehr, die Kontrolle ist weg, du bist ausgeliefert. Der Wind reißt an dir, dein Magen dreht sich, die Geschwindigkeit zerrt an jedem Nerv. Die Tiefe verschluckt dich, und für einen Atemzug ist da nur der pure Fall. Du hältst dich fest, klammerst dich an das, woran du dich klammern kannst, und dann ändert sich die Bewegung. Ein neues Hoch, ein neuer Fall, Spiralen und Kurven. Es gibt kein Entkommen, nur das Weiter, immer weiter. Die Strecke, die du nicht siehst, die Kurven, die du nicht kennst, all das zwingt dich, den Moment zu ertragen, zu fühlen, zu erleben. Es gibt die Höhen, in denen du glaubst, alles erreichen zu können, und die Tiefen, die dich in Frage stellen lassen, ob du überhaupt weiterfahren willst. Doch die Wahrheit ist, dass du nicht aussteigen kannst, bis die Fahrt zu Ende ist. Irgendwann, das weißt du, rollt der Wagen in die Endstation, und die Welt hat sich nicht verändert, obwohl du glaubst, dass sie es müsste. Und eigentlich spreche ich gar nicht von Achterbahnen.
Ich habe Angst vor Achterbahnen. Ich steige nicht ein. Während andere sich in die engen Sitze zwängen und die Sicherheitsbügel über ihre Schultern schließen, bleibe ich unten, am Boden. Ich sehe zu, wie sich die Bahn langsam in Bewegung setzt, höre das Klicken der Kette, die die Wagen unerbittlich nach oben zieht, immer höher, bis sie den Himmel zu berühren scheinen. Von unten beobachte ich die Menschen, wie sie schreien, sich festklammern oder manchmal die Hände in den Himmel werfen, als wollten sie den Augenblick herausfordern. Es sind die Gesichter, die mich am meisten faszinieren. Gesichter voller Angst, Gesichter, die vor Freude strahlen. Es gibt entsetzte Blicke, die den Kontrollverlust spüren lassen, und solche, die in der Geschwindigkeit aufzugehen scheinen, die den Moment feiern, als sei er das Einzige, was zählt. Sie könnten nicht unterschiedlicher sein, diese Menschen. Jeder von ihnen trägt etwas Eigenes in sich, etwas Unausgesprochenes, das sich in ihrem Blick, ihrem Lachen oder ihrem Schweigen zeigt. Und doch verbindet sie etwas: Es ist der Mut, einzusteigen. Sich in etwas hineinzubegeben, von dem sie wissen, dass es sie herausfordern wird. Etwas, das sie durch Höhen und Tiefen wirbeln wird, ohne dass sie die Strecke wirklich kennen.
Am Boden jedoch bleibt alles ruhig, sicher und berechenbar – oder zumindest scheint es so. Den Rausch, die Angst, die Freude spüre ich nicht, denn ich bleibe, wo ich bin. Unten. Dort, unter meinen Füßen, fühlt sich alles kontrollierbar an. Doch manchmal frage ich mich, ob es nicht genau dieser Mut ist, den man braucht, um zu wachsen. Um wirklich etwas zu verändern. Wenn ich immer nur am Boden bleibe, mich an die vermeintliche Sicherheit klammere, bleibe ich dort, wo ich bin – unbewegt, unverändert. Aber Sicherheit, das wird mir mehr und mehr klar, ist nichts als eine Illusion. Das Leben selbst ist eine ständige Fahrt, voller Höhen und Tiefen, voller Kurven und Wendungen, die wir nicht vorhersehen können. Vielleicht ist es genau das, worauf es ankommt: einzusteigen, sich der Unsicherheit zu stellen, den Kontrollverlust zu riskieren – nicht, weil es leicht ist, sondern weil es notwendig ist. Vielleicht ist es so, dass wir, wenn wir es nur schaffen, die vermeintliche Sicherheit hinter uns zu lassen, wirklich und wahrhaftig erfahren, wie es sich anfühlt, zu leben.
Was wäre wenn?
Wir – und vielleicht meine ich damit vor allem mich – verlieren uns zu oft in Gedanken. Gedanken an das, was kommen könnte, an das, was vielleicht niemals eintreten wird. Wir malen uns aus, was geschehen könnte, wenn wir den falschen Schritt machen, und wir fürchten uns vor den Urteilen anderer, die uns sowieso nicht wirklich kennen. Wir haben Angst, Fehler zu begehen, etwas zu verlieren, jemanden zu enttäuschen. Es ist diese Furcht, die uns lähmt, die uns klein hält. Aber wie oft fragen wir uns wirklich, was wir gewinnen könnten, wenn wir bereit wären, etwas zu verlieren? Wenn wir die Möglichkeit des Verlusts nicht länger als Bedrohung sähen, sondern als Einladung, zu wachsen, zu lernen, zu leben?
Vielleicht fehlt uns der Mut zu solchen Fragen, weil wir schon früh gelernt haben, sie nicht zu stellen. Als Kinder wurden wir manchmal getadelt, wenn wir zu neugierig waren, wenn wir zu viel wissen wollten, wenn wir Dinge hinterfragten, die für andere selbstverständlich schienen. Und so haben wir verlernt zu fragen. Doch nur wer fragt, kann Antworten finden. Nur wer bereit ist, Antworten zu hören, kann diese Welt begreifen, mit all ihren Widersprüchen, ihrer Schönheit und ihrer Grausamkeit. Und vielleicht ist es an der Zeit, wieder neugierig zu sein. Vielleicht sollte ich mutiger sein, mehr wagen, mich mehr trauen. Die Sicherheit, an die wir uns klammern, ist ohnehin nichts als eine Illusion. Am Ende, das ist eine Wahrheit, die sich nicht leugnen lässt, verlieren wir alles. Jeder trennt sich irgendwann von allem – von Dingen, von Menschen, von der Welt. Was aber bleibt, auch darüber hinaus, jedenfalls hoffe ich das inständig, sind die Erinnerungen. Momente, die wir erleben durften, Augenblicke, in denen wir lebendig waren, weil wir den Mut hatten, die Unsicherheit zu umarmen und einfach zu leben.
Es geht nicht um Beruf, Karriere oder Anerkennung
Ich spreche nicht von Beruf, Karriere oder dem, was in der Gesellschaft oft als erstrebenswert gilt. Nicht von Status, Anerkennung oder vermeintlichem Erfolg. Ich spreche vom Leben – vom echten, unverfälschten Leben. Vielleicht sollten wir uns öfter sagen, dass wir uns lieben. Oder, wenn es so ist, dass wir uns nicht lieben. Vielleicht sollten wir ehrlicher sein, offener mit dem, was wir fühlen, mit unseren Ängsten, unseren Wünschen, mit dem, was uns bewegt oder vollkommen egal ist. Doch diese Ehrlichkeit birgt auch Risiken. Sie kann verletzen, Hoffnungen zerstören, tiefe Narben in den Seelen anderer hinterlassen. Und genau davor haben wir Angst. Wir sind oft „nett“. Wir vermeiden Worte, die wehtun könnten, behalten Gedanken für uns, die unbequem sind. Wir sagen nicht, was wir wirklich meinen, sondern das, was wir für richtig halten, weil wir glauben, dadurch ein guter Mensch zu sein. Aber vielleicht ist es genau andersherum. Vielleicht ist nett sein das Gegenteil von gut sein. Nett sein ist vorsichtig, angepasst, glatt. Es ist der Versuch, Konflikte zu umgehen, Schmerz zu vermeiden. Und doch, so glaube ich, vergessen wir dabei etwas Wesentliches: Schmerz gehört zum Leben. Er ist kein Feind, sondern ein Lehrer. Ohne das Wissen um Schmerz könnten wir das Glück nicht begreifen, so wie wir die Stille erst dann wahrnehmen, wenn die Lautstärke der Welt verstummt.
Vielleicht sollten wir aufhören, nur nett zu sein. Vielleicht sollten wir wagen, ehrlich zu sein, auch wenn es unbequem ist, auch wenn es wehtut. Denn nur wer den Mut hat, die Wahrheit auszusprechen, so glaube ich, kann wirklich gut sein. Und vielleicht ist es genau das, was das Leben von uns verlangt: den Schmerz zuzulassen, ihn nicht zu fürchten, sondern als das zu sehen, was er ist – eine Erinnerung daran, dass wir lebendig sind.
Ob ich ein guter Mensch bin?
Ob ich ein guter Mensch bin? Ich weiß es nicht. Nein, wahrscheinlich nicht. Ich würde mich selbst nicht so nennen, und ich glaube, es wäre vermessen, es zu tun. Ob ich mutig bin? Auch das bezweifle ich. Mut, das ist etwas, das ich oft von außen sehe, bei anderen, aber eher selten in mir selbst. Ich stehe meist am Boden, beobachte die Höhen und Tiefen der anderen, wie sie sich voller Vertrauen, manchmal fast ohne Zweifel, dem Auf und Ab hingeben. Ich sehe ihnen zu, während ich selbst stehen bleibe. Sage ich immer die Wahrheit? Nein. Oft nicht. Zu oft habe ich Angst, jemanden zu verletzen, Angst, dass Worte mehr zerstören könnten, als sie sollten. Dabei vergesse ich, dass das Verschweigen der Wahrheit nicht weniger schmerzt. Es verschiebt den Schmerz nur, verändert ihn vielleicht, macht ihn aber nicht weniger real. Er kommt dann nur später, oft unverhofft, oft schlimmer, als er es eigentlich hätte sein müssen.
So ist es übrigens auch mit dem eigenen Schmerz: Wir können ihm ausweichen, aber er kommt. Er findet seinen Weg, immer. Vielleicht in einer anderen Form, vielleicht zu einer anderen Zeit, doch er kommt. Schmerz ist unvermeidbar, genauso wie die Freude es ist. Sie sind wie zwei Seiten derselben Münze, untrennbar miteinander verbunden. Ohne den einen könnten wir den anderen nicht wirklich erkennen, geschweige denn schätzen. Schmerz lehrt uns, die Freude zu begreifen, sie nicht als selbstverständlich hinzunehmen. Und die Freude wiederum gibt uns die Kraft, den Schmerz zu ertragen, ihn anzunehmen, ohne daran zu zerbrechen. Beides gehört zum Leben, in einem Wechselspiel, das uns formt, wachsen lässt und uns daran erinnert, dass wir lebendig sind. Ohne Schmerz gäbe es keine Tiefe, ohne Freude keine Leichtigkeit. Es ist diese Balance, die das Leben ausmacht. Trotzdem rennen wir manchmal dem Glück hinterher, als könnten wir es für immer festhalten, als könnten wir den Schmerz damit austricksen. Aber das funktioniert nicht. Je mehr wir versuchen, ihn zu vermeiden, desto größer wird er, desto tiefer gräbt er sich ein. Vielleicht ist das die Wahrheit, die ich in den letzten zwei Jahren wirklich lernen musste: Dass Schmerz ein Teil von mir ist, so sehr wie das Glück. Dass er nicht mein Feind ist, sondern ein Begleiter, der mir zeigt, was wirklich zählt. Und vielleicht, dass Mut nicht bedeutet, ohne Angst zu leben, sondern sich ihr zu stellen – selbst dann, wenn es weh tut.
Schmerz ist notwendig
Im Januar dieses Jahres habe ich etwas Entscheidendes begriffen: Schmerz ist notwendig. Ohne ihn gibt es kein Wachstum. Es klingt vielleicht banal, fast klischeehaft, aber es ist die Wahrheit. Ich habe verstanden, dass Schmerz – in diesem Fall körperlicher Schmerz – der Preis ist, den ich zahlen muss, um zu einer besseren Version meiner selbst zu werden. Es war keine Erkenntnis, die sanft kam, keine Einsicht, die leise an die Tür klopfte. Sie hat sich aufgedrängt, mit brennenden Muskeln, mit Atemnot, mit blutigen Füßen. Ich bin gelaufen, bis ich nicht mehr konnte, bis meine Beine nachgaben und der Schmerz mich zu einem Halt zwang. Manchmal habe ich mich in einem Straßengraben übergeben, die Welt um mich drehte sich, und ich fragte mich, warum ich das überhaupt tat. Ich habe Gewichte gestemmt, bis meine Arme zitterten, habe Liegestütze gemacht, bis ich flach auf dem Boden lag und der Himmel über mir kreiste.
Das alles soll nicht sagen, dass ich ein Ausnahmesportler bin – das bin ich nicht. Es soll sagen, dass ich bei null angefangen habe. Im Januar war ein fünf Kilometer langer Spaziergang eine Herausforderung, die mich an den Rand meiner Kräfte brachte. Und jetzt, im Dezember? Jetzt gehe ich täglich 20 bis 30 Kilometer zu Fuß. Ich habe mehr als dreißig Kilo verloren, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass ich mir für das kommende Jahr neue Herausforderungen gesetzt habe, die noch mehr von mir abverlangen werden, die noch mehr Schmerz mit sich bringen werden. Und das Verrückte daran: Ich freue mich darauf. Doch der Schmerz wird nicht nur körperlich sein. Ich weiß, dass das Leben mir weitere Hindernisse in den Weg legen wird. Es werden Tage kommen, an denen ich am Boden sitze, an denen alles zu viel erscheint, an denen Tränen fließen und der Schmerz in mir tobt. Aber das ist in Ordnung. Ich schäme mich nicht mehr dafür. Der Schmerz ist nicht mein Feind, er ist der Anfang des Wachstums. Denn es geht nicht mehr darum, erfolgreich zu sein, irgendwem etwas zu beweisen oder Anerkennung zu suchen. Es geht darum, das Spiel des Lebens zu spielen – mit dem Wissen, dass es weder Gewinner noch Verlierer gibt.
Es geht darum, wie man spielt. Vielleicht beginnt es damit, sich vom Boden zu erheben, den Mut zu fassen, in den Wagen zu steigen und die Fahrt zu beginnen, ohne zu wissen, wohin sie führt. Die Kurven, Wendungen, Höhen und Tiefen kommen sowieso. Das Leben ist temporär, alles ist vergänglich. Aber wenn man alles annimmt, wie es kommt, wenn man aufhört, sich dagegen zu wehren, dann beginnt man die Fahrt zu genießen. Dann kann man am Ende mit einem Lächeln die Endstation erreichen. Und vielleicht – wer weiß das schon – beginnt nach dieser Fahrt eine neue. Mit neuen Kurven, neuen Wendungen, neuen Herausforderungen. Und vielleicht sieht man diese neue Reise gelassener, weil man durch die Strapazen, die Höhepunkte und Tiefen, durch die Ängste und Hoffnungen, durch das Glück und vor allem durch den Schmerz stärker geworden ist, als man es vorher war. Stärker, als ich es jemals war.