Sondern weil man aufgehört hat zu warten. Weil man begreift, dass niemand sonst für einen läuft. Oder denkt. Oder fühlt. Weil es keine Rolle spielt, wer hinter einem steht, wenn der Weg nach vorne offen ist.

Laufen. Loslassen. Weitergehen.

Mir hat mal jemand gesagt, Laufen sei einfach. Ein Fuß vor den anderen, ein natürlicher Bewegungsablauf, den der Körper von selbst kennt. Aber das stimmt nicht. Laufen ist nicht einfach. Es ist eine Entscheidung. Gegen das Bleiben, gegen das Ausharren, gegen das Warten darauf, dass sich Dinge von selbst verändern. Man schnürt die Schuhe, zieht die Schleife fester, als würde man sich damit an etwas binden – oder vielleicht sogar von etwas lösen. Ich weiß natürlich nicht, wie es anderen geht, aber der erste Schritt fühlt sich oftmals falsch an. Der Körper ist noch träge, der Atem noch unrhythmisch. Die Beine sind schwer. Doch dann passiert es. Nach ein paar hundert Metern setzt die Gewohnheit ein, dann die Leichtigkeit. Der Kies knirscht leise unter den Sohlen, das Geräusch verliert sich im Wind. Die Luft riecht nach feuchter Erde, nach dem ersten Grün, das noch zaghaft ist, aber doch schon da. Es ist fast Mitte März. Die Tage werden länger, aber noch ist die Welt unentschlossen. Zwischen Winter und Frühling, zwischen Kälte und Wärme. Das Leben passiert woanders – in den Städten, in den Straßen, in den Gesprächen über Belanglosigkeiten. Aber nicht hier. Hier gibt es nur den Körper, der sich weiterbewegt. Manchmal denke ich, dass Laufen eine Art Vergessen ist. Schritt für Schritt verliert sich der Tag, werden die Gedanken weicher, lösen sich auf wie Nebel am Morgen. Dann kommt dieser Moment, den man nicht planen kann. Ein Augenblick der Stille. Kein Gestern, kein Morgen. Nur das Herz, das schlägt. Nur der Atem, der kommt und geht. Und erst dann laufe ich wirklich weiter. Nicht, weil ich muss. Sondern weil es nichts anderes gibt, was sich richtiger anfühlt. 

Ich bin kein Ausdauersportler. Kein Athlet, der auf Geschwindigkeit oder Bestzeiten achtet. Ich war nie jemand, der frühmorgens aus dem Bett springt, um sich freiwillig zu quälen. Noch vor einem Jahr war ein Spaziergang von fünf Kilometern eine Herausforderung. Die Art von Strecke, die man sich für einen Sonntag vornimmt, mit Pausen auf Parkbänken, vielleicht mit einem Kaffee in der Hand. Oder einer Pommes. Damals hätte ich nicht gedacht, dass sich das ändern könnte. Aber es hat sich geändert. Jetzt ziehe ich morgens, nachdem ich mit Talko spazieren war, die Laufschuhe an. Dann, wenn die Welt noch schläft. Meistens ist es fünf Uhr, vielleicht ein paar Minuten später, aber immer noch früh genug, dass die Straßenlaternen nicht mehr gebraucht werden und doch noch nicht erloschen sind. Der Ort ist in diesem Moment seltsam still. Kaum Autos, keine Gesprächsfetzen von Nachtschwärmern, nur das gedämpfte Knirschen meiner Schritte auf dem Asphalt.

Manchmal höre ich eine Eule rufen, ein einsames Geräusch in der Dämmerung. Manchmal flüchtet eine Taube aus dem Geäst der Bäume. Und manchmal hält ein Transporter vor der kleinen Bäckerei, lädt die ersten frischen Backwaren des Tages aus. Es riecht nach Mehl und warmer Luft, nach einem Morgen, der gerade erst beginnt. Wenn ich an dem kleinen Gewässer vorbeikomme, sehe ich manchmal eine Frau mit ihrem Hund. Wir nicken uns kaum merklich zu, und dann weiß ich: Eigentlich bin ich jetzt schon zu spät dran. Ich hätte längst woanders sein sollen. Unsichtbar für die Welt, nur ich und die Bewegung, der gleichmäßige Rhythmus der Schritte, das leise Ziehen in den Muskeln.

Abends laufe ich hin und wieder ein zweites Mal. Nicht, weil ich muss. Sondern weil es dann schwer ist, still zu sitzen. Der Kopf wird zu laut, die Gedanken zu wirr. Laufen hilft. Es ist wie Schreiben – ein Weg, um Ordnung zu schaffen. Jeder Schritt sortiert etwas, setzt es an seinen Platz. Ich kann es nicht erklären, aber es funktioniert. Ja, mein Leben hat sich verändert. Vielleicht mehr, als ich erwartet hätte. Es verändert sich weiter. Und mit diesem Frühling beginnt eine neue Reise.

Vielleicht habe ich zu lange gebraucht, um eine Sache zu verstehen, vielleicht habe ich zu lange gebraucht, um zu erkennen, dass niemand kommt, um mir eine Richtung zu zeigen. Kein Zeichen, kein Signal, keine Stimme aus dem Off, die sagt: „Hey Luttmann, los jetzt, hier geht es lang.“

Die Entscheidungen, die ich treffen muss, gehören mir, die Schritte auch. Ich habe keinen Trainer, keinen Gegner, keinen Applaus. Nur mich. Und vielleicht ist das der Moment, in dem man sich selbst auf die Eins setzt. Nicht, weil man besser ist als andere. Sondern weil man aufgehört hat zu warten. Weil man begreift, dass niemand sonst für einen läuft. Oder denkt. Oder fühlt. Weil es keine Rolle spielt, wer hinter einem steht, wenn der Weg nach vorne offen ist. Natürlich, jeder Anfang hat seine Schattenseite. Man verliert Dinge, von denen man dachte, sie wären sicher. Gewohnheiten, die sich anfühlten wie Heimat. Menschen, die ein Stück des Weges mitgingen, aber irgendwann zurückblieben. Manchmal merkt man erst später, dass es Abschiede waren. Dass sich Wege leise trennen, ohne dass jemand es ausspricht. Ich glaube, man muss das akzeptieren. Dass man nicht alles behalten kann. Dass Veränderungen immer einen Preis haben. Aber vielleicht ist das in Ordnung. Vielleicht bedeutet es nur, dass man Platz schafft für das, was kommt. Ich laufe weiter. Schritt für Schritt. Nicht schneller, nicht langsamer, nur in meinem eigenen Tempo. Und wenn ich zurückblicke, dann nur, um mich vielleicht mal zu erinnern, nicht um stehenzubleiben. Denn es geht nicht darum, wo ich war. Es geht nur noch darum, wo ich hin will.