„Menschen gehen nicht, weil du etwas falsch gemacht hast. Sie gehen, weil es für sie Zeit ist zu gehen.“

JEMAND, DER MAL EIN FREUND WAR.

Lass sie.

Das neue Jahr hat längst begonnen und draußen regnet es. Nicht der kurze, launische Regen eines Sommergewitters, sondern dieser beständige, unnachgiebige Januarregen, der sich wie ein Vorhang über die Welt legt. Er fällt in gleichmäßigen Tropfen, die in den Pfützen auf dem Asphalt Kreise ziehen, sich überschneiden, wieder verschwinden, nur um von neuen Tropfen ersetzt zu werden. Der Himmel ist eine matte, farblose Fläche, irgendwo zwischen Grau und Weiß. Die Fenster sind von einem dünnen, milchigen Dunst überzogen, kleine Perlen aus Feuchtigkeit haben sich an den Rändern gesammelt, als würden auch sie nur langsam den Weg nach unten finden. Von irgendwo im Haus höre ich das leise, rhythmische Tropfen eines Wasserhahns. Ich sitze am Küchentisch, und die Uhr an der Wand tickt laut, viel zu laut, als würde sie mir die Zeit bewusst machen, die in diesem Moment vergeht, ohne dass ich sie wirklich nutze. Mein Blick fällt auf die Tasse vor mir. Der Kaffee, ein heller Schimmer von Bernstein, ist längst kalt geworden. Draußen fahren hin und wieder Autos vorbei, die Scheibenwischer wischen hektisch über die Windschutzscheiben, als hätten sie es eilig, diesen Tag hinter sich zu lassen. Aber ich sitze hier und spüre, wie die Zeit sich dehnt, wie der Regen sie in die Länge zieht. Vielleicht muss man nicht immer alles festhalten, denke ich. Vielleicht ist es besser, loszulassen.

Es war kein Moment, an dem sich die Welt plötzlich aufklärte, kein Wink des Schicksals, der mir eine Wahrheit offenbarte. Loslassen ist keine große Erkenntnis. Es ist keine dieser dramatischen Wendungen, wie man sie aus Büchern oder Filmen kennt, wo der Protagonist auf einen Schlag versteht, was er tun muss. Es ist leiser. Zäher. Ein unnachgiebiges Einsehen. Vielleicht eine Müdigkeit, die sich langsam einschleicht. Ich saß da, den Blick auf das Fenster gerichtet. Der Regen rann in dünnen Streifen über das Glas. Ich beobachtete ihn, wie er die Scheibe hinunterlief, wie er sich in kleinen Pfützen sammelte, wie es immer wieder aufs Neue begann. In solchen Momenten denkt man an Dinge, die man sonst verdrängt. An dieses eine Wort. Manchmal ist es nur ein Satz, der einem in den Sinn kommt. Fast wie ein Befehl. „Lass es los.“ Drei Worte, klar und hart. Doch hinter dieser Härte steckt etwas anderes. Etwas Befreiendes. Etwas Endgültiges. Es bedeutet, dass ich nicht alles verstehen muss. Dass ich nicht kämpfen muss. Dass es nicht meine Verantwortung ist, das Chaos der Welt zu ordnen oder die Entscheidungen anderer Menschen zu korrigieren. Es ist, als würde ich mir selbst erlauben, die Schwere abzugeben, die ich so lange mit mir herumgetragen habe.

Es wird 2010 gewesen sein, vielleicht 2009. Damals saß ich mit einem Freund an einem Tresen einer kleinen Kneipe. Wir hatten etwas getrunken und verloren uns in einem Gespräch über das, was war, und das, was kommen würde. Es war spät, und er sprach mit einer Gelassenheit, die mich damals ärgerte. „Menschen gehen nicht, weil du etwas falsch gemacht hast“, sagte er. „Sie gehen, weil es für sie Zeit ist zu gehen.“ Ich erinnere mich, dass ich diese Worte damals als eine Art Flucht empfand, als eine Ausrede, um sich nicht mit den schwierigen Dingen auseinandersetzen zu müssen. Heute allerdings sehe ich ein, dass er recht hatte. Draußen tropfte der Regen weiter. Geduldig. So, wie er es seit Stunden tat. Tropfen für Tropfen, unverändert, unbeeindruckt. Vielleicht, dachte ich, ist das der einzige Weg, loszulassen: Tropfen für Tropfen, geduldig, ohne Eile. Sich nicht zwingen, nicht verzweifeln, sondern Schritt für Schritt. Es ist nicht die Welt, die stehen bleibt, wenn man loslässt. Es ist das eigene Leben, das leichter wird, wenn man die Hände frei hat. Ich lehnte mich zurück und sah dem Regen weiter zu. Manche Dinge sind einfacher, als wir denken. Und schwerer, als wir zugeben wollen.

Während die Uhr weiter tickte, dachte ich an einige der Menschen, die in meinem Leben waren. Manche von ihnen waren mir so nah gewesen, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie es ohne sie weitergehen sollte. Aber sie gingen. Irgendwann, ohne Drama, ohne Vorwarnung. Es waren keine großen Abschiede, keine Worte, die alles erklärten. Sie entfernten sich einfach, leise, bis ihre Abwesenheit deutlicher war als ihre Gegenwart. Früher habe ich das nicht verstanden. Ich suchte nach Gründen, nach einem Fehler, den ich gemacht haben könnte. Ich analysierte Gespräche, kleine Momente, sogar Blicke. Ich wollte begreifen, warum sie gegangen waren, als hätte ich ein Recht auf eine Antwort. Aber die Wahrheit ist, dass die meisten Menschen nicht gehen, weil wir etwas falsch gemacht haben. Sie gehen, weil sie es wollen oder vielleicht, weil sie es müssen. Weil ihre Wege andere Richtungen einschlagen, weil sie Platz brauchen, weil ihre Zeit mit uns abgelaufen ist.

„Lass sie“, dachte ich. Es ist ein Satz, den man sich immer wieder sagen muss, weil er gegen alles geht, was wir in uns tragen. Wir wollen festhalten. Menschen, Erinnerungen, Möglichkeiten. Wir glauben, dass wir Dinge retten können, wenn wir uns nur genug anstrengen. Aber vielleicht ist genau das der Fehler. Es geht nicht ums Retten. Es geht ums Gehenlassen. Ich spürte, wie der Gedanke sich langsam setzte, wie ein Tropfen, der auf eine Oberfläche fällt und schließlich einsickert. Es ist schwer, loszulassen. Aber es ist noch schwerer, festzuhalten, wenn alles in dir spürt, dass die Zeit gekommen ist, es sein zu lassen. „Lass sie“, dachte ich noch einmal. Und mit diesem Gedanken schien der Regen draußen ein wenig nachzulassen. Vielleicht war es nur eine Täuschung. Doch ich begriff, dass Loslassen kein Zeichen der Schwäche ist, sondern eine Entscheidung. Vielleicht die schwerste Entscheidung überhaupt. Aber in ihr liegt eine Freiheit, die man nicht findet, wenn man sich an Dinge klammert, die nicht mehr da sind.

Ich saß noch da, die Hände auf dem Tisch, den Blick auf den Rest des kalten Kaffees gerichtet. Der Regen hatte tatsächlich nachgelassen, nur noch vereinzelt tropften kleine Perlen vom Dach. Es war still. Ich dachte an die Worte, die mir durch den Kopf gingen. „Lass sie.“ Sie wiederholten sich, leise, fast monoton, wie ein Herzschlag. Ich dachte an Freunde, die stiller wurden, bis sie verschwanden. Beziehungen, die wie ein Seil rissen, ohne Vorwarnung, ohne Abschied. Es gab Zeiten, in denen ich versucht hatte, das Seil zu knoten, es festzuhalten, obwohl es mir in die Hände schnitt. Aber irgendwann begreift man eben, dass es nichts bringt. Es sind nie die Seile, die halten, sondern die Menschen, die bleiben wollen.

Ich erinnerte mich an einen Moment, viele Jahre zuvor. Ein Freund, von dem ich dachte, er würde immer da sein, hatte sich zurückgezogen. Erst waren es Tage, dann Wochen, schließlich Monate, in denen wir kaum noch sprachen. Irgendwann bemerkte ich, dass ich mehr über ihn nachdachte, als er je wieder über mich gesprochen hatte. Ich schrieb ihm Nachrichten, versuchte, unsere Gespräche zurückzuholen, aber seine Antworten wurden kürzer, seltener. Eines Tages hörten sie ganz auf. Damals quälte mich die Frage, ob ich etwas falsch gemacht hatte. Jetzt begreife ich, dass ich nichts hätte ändern können. Menschen gehen, weil sie gehen müssen. Weil ihre Geschichten andere Wege nehmen. Und vielleicht ist das der Punkt: Es ist ihre Geschichte, nicht meine.

Der Regen setzte wieder ein, leise, gleichmäßig, fast beruhigend. Ich lehnte mich zurück, die Hände locker im Schoß, und sah ihm zu. Loslassen ist keine Flucht. Es ist eine Entscheidung. Ein stilles Einsehen, dass das Leben der anderen nicht in unseren Händen liegt. Dass wir nur ein Teil der Geschichten anderer Menschen sind und nie wirklich der Wichtigste. Es ist keine Schwäche, loszulassen. Es ist die einzige Möglichkeit, frei zu sein. Die einzige Möglichkeit, das Gewicht der Dinge abzuwerfen, die uns sonst erdrücken. Vielleicht ist es das, was wir lernen müssen: zu akzeptieren, dass Menschen gehen dürfen, dass sie uns nicht gehören, dass nichts bleibt, außer dem, was wir mit uns tragen, und selbst das müssen wir eines Tages abgeben.

Ich trank den letzten Schluck kalten Kaffee, stand auf und öffnete das Fenster. Die Luft war frisch, das Geräusch des Regens lauter. Es war einer dieser Momente, in denen man begreift, dass alles genau so ist, wie es sein soll. Und dass das genug ist.