„Es ist nicht der Mensch, der dich enttäuscht. Es sind deine Erwartungen.“

MARCUS AURELIUS

Die Wahrheit ist einfach.

Der Frost hatte sich zurückgezogen, der letzte Schnee war geschmolzen. Fortgespült von einem Regen, der so lautlos fiel, als wäre er sich seiner eigenen Bedeutungslosigkeit bewusst. Hier und da lief er an den Schaufensterscheiben herab, zog schmale Rinnsale durch die gepflasterten Gassen, sammelte sich in flachen Pfützen oder versickerte in den Grünflächen der Stadt, die an diesem Nachmittag seltsam leer wirkte.  Es war einer dieser Tage, an denen alles verschwimmt. Fast so, als hätte jemand vergessen, klare Linien zu ziehen. Die Dinge verloren ihre Kanten, Farben verblassten, Geräusche klangen gedämpft, als würde die Welt sich nicht mehr ganz für sich selbst interessieren.

Im alten Buchladen brannte Licht. Warm und gedämpft, ein versprengter Rest von Behaglichkeit in einer Stadt, die langsam ihre Konturen verlor. An der Hauswand lehnte ein altes Fahrrad, nass vom Regen, ein rostiges Schloss locker um den Rahmen gelegt. In dem kleinen Café an der Ecke saß ein Mann. Allein. Seine Tasse war halb voll, der Kaffee längst kalt. Er starrte ins Nichts, als würde er dort eine Antwort finden. Draußen fuhr ein alter Passat vorbei, langsam, die Reifen kaum hörbar auf dem nassen Asphalt. Vielleicht wartete der Mann auf jemanden. Vielleicht wartete er darauf, dass etwas geschieht. Aber nichts geschah. Am Fenster stand eine vergessene Pflanze, ihre Blätter fahl, als hätte sie längst aufgehört, am Leben festzuhalten. Eine Kellnerin wischte mit leeren Bewegungen über die Theke. Draußen klapperte ein loses Straßenschild im Wind. Die Welt drehte sich weiter. Und ihr war es vollkommen egal, was er dachte. 

Allein am Rand der Welt stehend, schaute ich ihr dabei zu. Ich wusste, dass dieser Winter enden und ein neuer kommen würde, aber darüber machte ich mir keine Gedanken. Ich verstand nie viel von den Menschen, von Freundschaften und davon, wie man sie pflegt. Auch würde ich nicht behaupten, jemals ein guter Freund gewesen zu sein. Vielleicht meinte ich es manchmal zu gut. Vielleicht war ich manchmal zu wenig. Und vielleicht zog ich selbst die Einsamkeit der Geselligkeit vor. Was ich aber weiß und immer schon wusste: Menschen sind kompliziert. Nicht, weil sie es sein müssen, sondern weil sie sich selbst so machen. Sie erwarten, hoffen, analysieren jedes Detail, suchen nach Zeichen, wo keine sind. Sie halten an Dingen fest, die längst verschwunden sind, glauben an Worte, die nie gesagt wurden, und warten auf Menschen, die sich längst verabschiedet haben.

Ich sah mir diesen Mann in dem kleinen Café an. Vielleicht dachte er an all die Möglichkeiten, an jedes kleine Detail, das er hätte anders machen können. An Worte, die gesagt wurden oder unausgesprochen blieben. An Zeichen, die er zu erkennen glaubte. Vielleicht suchte er nach einem Grund, nach einer Erklärung, die ihm das Chaos in seinem Kopf ordnete. Ja, Menschen tun so etwas. Sie halten sich an ihren Erwartungen fest, bis sie unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen. Sie deuten Blicke, analysieren Schweigen, lesen zwischen den Zeilen Dinge, wo nichts geschrieben steht. Sie glauben so oft an unausgesprochene Versprechen, halten Türen im Blick, die nur einen Spalt offenstehen, und klammern sich an Möglichkeiten, die längst vergangen sind. Sie machen es kompliziert, weil die Wahrheit oft zu einfach ist, zu schmerzhaft in ihrer Klarheit.

Die Wahrheit ist…

…Menschen sind nicht kompliziert. Sie tun nur so. Sie reden von Umständen, von ungünstigen Momenten, von Dingen, die anders hätten laufen können, von fehlender Zeit. Sie erzählen Geschichten über das, was möglich gewesen wäre, über das, was sie tief in ihrem Inneren vielleicht doch gefühlt haben. Aber am Ende zählt nur das, was sie getan haben. Oder eben nicht. Die Sache ist die – und ich habe selbst lange gebraucht, um es zu verstehen: Wenn du jemandem etwas bedeutest, wenn dich jemand wirklich mag, dann wirst du es wissen. Ohne Zweifel. Ohne Grübeln, ohne Warten. Menschen, die dich in ihrem Leben wollen, schaffen Platz. Sie nehmen sich Zeit. Sie zeigen dir, dass du ihnen wichtig bist – nicht durch große Gesten, sondern durch Selbstverständlichkeit. Sie sind einfach da. Sie machen Platz für dich, nicht aus Höflichkeit, sondern weil es für sie keine andere Option gibt. Und wenn sie es nicht tun, wenn sie nicht da sind, dann ist das die einzige Antwort, die du brauchst.

Glaube nicht an Ausreden. Glaube nicht an „vielleicht irgendwann“, nicht an „es ist gerade schwierig“. Die Wahrheit ist viel einfacher. Sie ist schmerzhaft, weil sie dir jede Illusion nimmt und jeden Gedanken an eine mögliche Zukunft zerstört. Aber genau das macht sie auch so befreiend. Wenn du da stehst und dich fragst, wo dein Platz ist, dann hast du keinen. So bitter es klingt, so wahr ist es. Und je schneller du es erkennst, desto schneller kannst du aufhören zu hoffen. Denn Hoffnung ist ein Trick, eine Falle, die dich festhält. Manche Menschen lassen die Tür nur einen Spalt offen – gerade genug, damit du glaubst, es gäbe noch einen Weg hinein. Aber eine Tür, die nur halb offensteht, ist keine Einladung. Sie ist ein Abschied, der nie ausgesprochen wurde. Lauf niemandem hinterher. Bettle nicht. Liebe ist kein Rätsel, das du lösen musst. Freundschaft ist kein Spiel. Entweder ist es da oder nicht. Und wenn nichts da ist, dann hat es keinen Sinn, zu warten. Hoffe nicht darauf, dass ein Geist sich umdreht. Geh. Lass los. Und wenn du die Tür hinter dir schließt, dann schließe sie ganz.

Der Regen hatte aufgehört. Nur das Tropfen von den Dächern erinnerte noch daran, dass er da gewesen war. Die Gassen glänzten nass im fahlen Licht der Laternen, und irgendwo in der Ferne bellte ein Hund, als wollte er dem endenden Nachmittag etwas entgegensetzen. Der Mann im Café rührte sich nicht. Seine Tasse stand immer noch vor ihm. Vielleicht hatte er längst verstanden. Vielleicht kämpfte er noch mit dem Gedanken, dass es nichts mehr zu verstehen gab. Ich sah ihm noch einen Moment dabei zu. Dann wandte ich mich ab. Manchmal gibt es nichts zu sagen. Kein Gespräch, das etwas ändern würde. Kein Wort, das eine Tür wieder öffnet, die längst geschlossen gehört. Und irgendwann hört man auf zu warten. Irgendwann steht man auf, zahlt die Rechnung, zieht die Jacke an und geht. Nicht mit Groll. Nicht aus Trotz. Sondern weil es das Einzige ist, was bleibt. Die Welt dreht sich weiter. Immer. Und ihr ist es vollkommen egal, was wir fühlen. Oder denken.