Die Sache mit den Schuhen.
Der frühe Morgen lag kühl und still über den Feldern. Die Luft war feucht von der Nacht, noch nicht ganz Frühling, aber auch nicht mehr Winter. Über den Wiesen lag ein Hauch von Nebel, dünn wie ein Schleier, der langsam verblasste, während die Sonne sich um diese Uhrzeit noch nicht blicken ließ. Die Straßen waren leer, nur der entfernte Klang eines Motors, der Ruf eines einsamen Vogels irgendwo in den kahlen Bäumen. Ich zog die Schnürsenkel fest, spürte den Druck der Schuhe gegen meine Füße. Der erste Schritt war noch schwerfällig, als müsste sich der Körper erst daran erinnern, dass er laufen kann. Der Asphalt unter mir war kühl. Die ersten Schritte, vorsichtig, wie ein Versprechen an mich selbst. Dann ein Atemzug, noch einer. Ich lief. Die Straße führte hinaus aus dem Dorf, vorbei an alten Höfen, deren Fenster um jene Uhrzeit blinde Spiegel waren. Ein Traktor stand regungslos neben einem scheinbar vergessenen Stall, sein Metall feucht vom Tau der Nacht. Der Wind war kaum mehr als eine Bewegung in den Zweigen. Und doch war da dieses Gefühl, als würde die Welt größer werden mit jedem Schritt. Irgendwo krähte ein Hahn. Die Felder wurden weiter, der Himmel gefühlt heller. Ich atmete tief ein, spürte die Kühle in meinen Lungen. Ein paar Meter noch, vielleicht ein paar Minuten. Dann würde ich umkehren, langsam werden, stehen bleiben. Aber jetzt, jetzt wollte ich laufen.
Ich bin kein Läufer. Nicht wirklich. Vor ein paar Tagen musste ich noch googeln, was Pace bedeutet, und als ich die Zahlen sah, verstand ich sie erstmal nicht. Minuten pro Kilometer. Das klang wie eine mathematische Formel, eine Gleichung, die für andere geschrieben war – für diejenigen mit ihren schmalen Waden, den leichten Schritten, den drahtigen Körpern, die morgens aus der Tür kommen und loslaufen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Ich bin keiner dieser Menschen. Noch nicht. Mein Atem ist zu laut, mein Schritt zu ungleichmäßig. Nach wenigen Minuten spüre ich meine Beine, nach zehn den ersten Widerstand. Ich sehe manchmal Menschen, die mühelos an mir vorbeiziehen, sehe ihre Bewegungen, die wie eine fließende Einheit erscheinen, und frage mich, ob es irgendwann leichter wird. Ja, ich bin wahrscheinlich die letzte Person, die Ratschläge zum Laufen geben sollte. Und trotzdem laufe ich seit Anfang des Jahres. Immer wieder. Nicht, weil ich schneller werden will. Nicht, weil ich Bestzeiten erreichen oder an Wettkämpfen teilnehmen möchte. Ich laufe, weil es etwas mit mir macht. Weil es Dinge ordnet, die sich sonst nicht ordnen lassen. Weil die Gedanken, die sonst ungebremst durch meinen Kopf rasen, sich mit jedem Schritt beruhigen. Und ich liebe diesen einen Punkt – irgendwo zwischen dem dritten und vierten Kilometer –, an dem sich etwas verändert.
Am Anfang ist es schwer, fast eine Strafe, eine Qual, eigentlich ein riesiger Haufen Scheiße. Der Körper wehrt sich, der Kopf zählt jede Sekunde. Aber dann, ganz plötzlich, wird es leichter. Der Atem findet seinen Rhythmus, die Beine laufen von selbst. Die Geräusche werden dumpf, die Welt um dich herum weiter. Vielleicht ist es das, was andere „Runner’s High“ nennen. Oder vielleicht ist es einfach nur die Erkenntnis, dass es manchmal reicht, sich zu bewegen. Dass es egal ist, wie schnell oder wie weit. Ich denke, ich laufe, weil es mir guttut. Weil es mich zwingt, vorwärtszugehen, wenn alles in mir stehen bleiben will. Und vielleicht ist genau das der Grund, warum ich weitermache.
Neue Schuhe
Im letzten Jahr habe ich angefangen zu gehen. Einfaches, klassisches Spazieren. Keine Apps, keine Challenge, kein Ziel. Erst kürzere Strecken, dann längere. Morgens, mittags, abends. Nicht nur, weil ich sportlicher werden wollte, sondern weil Talko raus musste. Weil es mir guttat. Vielleicht auch, weil es eine Form von Bewegung war, die nicht von Erwartungen begleitet wurde. Kein Tempo, kein Wettbewerb. Nur Schritte, einer nach dem anderen. Ich ging durch Regen und Wind, durch dunkle Straßen, vorbei an leeren Feldern, auf denen nichts wuchs außer Stille. Ich sah die Welt in Fragmenten – nasse Wege, flackernde Straßenlaternen, den Schein einer Küche in einem fremden Haus. Dabei begriff ich mehr und mehr, dass Bewegung besser ist als Stillstand.
Und dann, irgendwann im Januar, begann ich zu laufen. Immer morgens. Meistens gegen fünf. Wenn die Stadt noch schlief und die Nacht nicht wusste, ob sie bleiben oder dem Tag Platz machen sollte. Erst vorsichtig, ein paar hundert Meter. Dann ein Kilometer, zwei. Es war anstrengend, ich hasste es, aber es wurde besser. Nicht leicht, aber besser. Mein Körper gewöhnte sich daran, mein Kopf vielleicht auch. Und doch gibt es Momente, in denen ich mich frage, warum ich eigentlich so bescheuert bin. Warum ich freiwillig in der Kälte stehe, mir die Schuhe zubinde, während andere noch schlafen. Warum ich meinen Atem hören muss, dieses unüberhörbare Röcheln, das nichts mit Leichtigkeit zu tun hat. Aber dann begreife ich schnell, dass diese Fragen nur Fragen meines beschissenen Egos sind – dieses faule und gefrässige Ding, welches sich in seiner bequemen Rolle so gut eingerichtet hat. Das sich gegen Veränderungen wehrt, weil Stillstand eben einfacher ist als Bewegung. Egal. Diesen Kampf gewinne ich. Nahezu jeden Morgen.
Was mir allerdings aufgefallen ist: Die Schuhe scheinen schneller nachzugeben. Anfangs dachte ich, es wäre Einbildung. Aber ich spüre es unter den Sohlen – dieses Nachlassen, dieses feine, fast unmerkliche Gefühl, dass die Dämpfung schwächer wird, der Halt nicht mehr derselbe ist. Als würde jeder Schritt eine winzige Schicht zurücklassen, eine Spur aus Abrieb und Verschleiß. Und irgendwann sind es nicht nur Spuren, sondern Löcher. Winzige Risse, durch die ich jeden spitzen Stein schneller spüre als mir eigentlich lieb ist. Manchmal bluten dann die Füße und manchmal entlasse ich Flüche in die Dunkelheit, die ich hier nicht ausschreiben möchte. Es ist echt, als würden die Schuhe in Rekordzeit altern, mit jeder Strecke ein bisschen mehr. Vielleicht ist es normal. Vielleicht ist es einfach der Preis dafür, dass ich laufe, laufe und laufe. Egal. Nach gut zwei Monaten – sprich nach acht Wochen, 56 Tagen und unzähligen Schritten – sind sie durch. Immer. Und deswegen habe ich mir heute neue Schuhe gekauft.
Ob die Schuhe gute Laufschuhe sind, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Ich habe keine Bewertungen gelesen, keine Tabellen mit Dämpfungswerten verglichen, mir keine Videos über die perfekte Laufmechanik angesehen. Ich bin einfach in das kleine Schuhgeschäft in der Stadt gegangen, habe nach Größe 47 gefragt und bekam eine kurze, nüchterne Antwort: „Da haben wir nicht viel.“ Es standen mehrere Modelle zur Auswahl.
Eines sah aus wie ein klobiger Wanderschuh, eines hatte eine seltsame Neonfarbe, die mich sofort abschreckte, und dann waren da noch die „Ultimashow 2.0“ von ADIDAS und die „JOLT 5“ von asics. Ich hielt sie in den Händen, wog sie kurz nach Gefühl, zog sie an. Sie passten. Ich lief ein paar Schritte im Laden, hörte das Geräusch der Gummisohle auf dem Boden. Das war alles. Keine Beratung, kein Fachwissen. Nur eine einfache Entscheidung, getroffen aus einem Mangel an Alternativen und Bock ewig im Geschäft zu bleiben.
Ich weiß, es gibt Menschen, die das anders machen. Menschen, die sich informieren, Testberichte lesen, Vor- und Nachteile ab wägen, sich beraten lassen, verschiedene Modelle ausprobieren, bevor sie sich festlegen. Sie sprechen über Pronationsstützen und Sprengung, über Energierückgabe und die ideale Sohlenhärte für verschiedene Untergründe. Ich bewundere das. Aber so war es bei mir nicht. Wie gesagt, ich habe „noch“ keine Ahnung. Bis Mai, so denke ich, werden die Schuhe halten. Vielleicht nicht perfekt, vielleicht nicht ohne Mängel, aber sie werden ihren Zweck erfüllen. Und dann, so habe ich es mir vorgenommen, werde ich es richtig machen. Eine professionelle Laufanalyse, eine Messung, eine fundierte Entscheidung.
Aber noch ist es nicht so weit.
Noch laufe ich auf diesen Sohlen, mit diesen Schritten, solange sie mich tragen.