„Es ist nie zu spät, das zu werden, was man hätte sein können.“

MARY ANN EVANS

Der frische Duft von Kaffee.

Die Wolken hingen tief, so schwer, dass sie die Bergrücken fast zu berühren schienen. Der Regen fiel gleichmäßig. Es war ein sanftes Trommeln auf den kahlen Ästen und den Dächern der Häuser. Die Straße nach Meschede war leer, nur hin und wieder tauchte ein alter Golf auf, fuhr langsam vorbei, die Reifen auf dem nassen Asphalt kaum zu hören. Die Felder lagen brach, schmale Wege führten hinauf in die Wälder. Dort roch es nach feuchtem Laub und Pilzen, nach dem Anfang von Verfall. Ein kleiner Bach zog sich durch das Tal, sein Wasser klar und kalt, ein Spiegel für das Licht, das kaum noch durch die Wolkendecke drang. Alles wirkte gedämpft, beinahe still – als würde die Welt den Atem anhalten. In einem Dorf, irgendwo zwischen Warstein und Olsberg, stieg Rauch aus einem Schornstein. Es roch nach Holz, nach einem alten Ofen, der in einem Haus stand, in dem die Zeit langsamer verging. Vor der Tür standen Gummistiefel, die Spuren vom Acker trugen. Ein Hund bellte, einmal nur, dann war wieder Ruhe.

Es begann mit einem leisen Summen. Die Maschine stand da, matt glänzend im schwindenden Licht des Nachmittags. Dann ein Klicken, ein kurzer Moment der Vorbereitung, bevor das tiefe Brummen einsetzte. Es war kein lautes Geräusch, eher ein Puls, wie ein Herzschlag, der durch den Raum vibrierte. Kaffeebohnen wurden gemahlen, Wasser durch ihr dunkles Pulver gedrückt, und der Duft breitete sich aus, erst zögerlich, dann allgegenwärtig. Eine warme, schwere Note von Röstaromen, ein Hauch von Schokolade und etwas, das an verbranntes Holz erinnerte. Der Dampf stieg auf, löste sich wieder in der Luft, und mit ihm die Erinnerung an all die Nachmittage, die genau so begonnen hatten. Der erste Tropfen fiel in die Tasse. Dann der nächste. Ein rhythmisches Plätschern, fast wie Regen, der auf ein Fensterbrett trifft. Es war ein vertrauter Klang, beruhigend, fast hypnotisch. Der Raum war still, bis auf dieses leise Ritual, und in dieser Stille schien die Welt kleiner zu werden, konzentrierter. Die Tasse füllte sich. Langsam. Der Duft blieb hängen, eine unsichtbare Schicht in der Luft, schwer und tröstlich zugleich. Es war ein Moment, der nichts bedeutete und doch alles. Eine kleine Ewigkeit zwischen dem Rauschen der Maschine und der Wärme, die die Tasse in den Händen spenden würde.

Ich stand am Fenster. Die dunkelgrauen Wolken am Himmel wirkten wie eine leere Leinwand, auf die ich meine Erinnerungen malen könnte – Bilder, die der nächste Atemzug des Windes davontragen würde. Ich lächelte, während ich sie losließ – Erinnerungen, Bruchstücke von Gestern, die ich in kleine Kästen sortierte. Ihre Deckel würde die Zeit mit Staub bedecken, bis sie schließlich in die hintersten Ecken meiner Gedankenwelt verschwanden. 16:30 Uhr. Draußen begannen die Straßenlaternen zu leuchten, ein weiches, warmes, gelbes Licht, das die Kälte des späten Nachmittags nur für einen Moment milder erscheinen ließ. Die Fenster der Häuser hingegen blieben dunkel, noch unberührt von Lichterketten oder weihnachtlichem Glanz. Es schien mir, als hielten sie den Atem an, als warteten sie auf den Totensonntag – diesen stillen Punkt im Kalender, an dem Erinnerungen Platz fanden, als warteten sie darauf, den Raum zu schaffen für das Gedenken an die, die schon gegangen waren.

Die mit Kaffee gefüllte Tasse fand ihren Platz zwischen meinen Händen. Ich fühlte die Wärme, und der Duft des Kaffees mischte sich mit der Kühle, die vom Fenster herüberzog. Zurück an der Scheibe erinnerte ich mich an Charles Horton Cooleys Worte: „Ich bin nicht, was ich denke zu sein, und nicht, was du denkst ich sei. Ich bin, was ich denke, du denkst, ich sei.“ Der Satz schwebte in meinem Kopf, wie eine Melodie, die sich wiederholte, immer mit einer anderen Betonung. Den aufsteigenden Dampf des Kaffees pustete ich gegen die Scheibe, beobachtete, wie er sich ausbreitete und in der Kälte verschwand. Für einen kurzen Moment war das Glas ein Notizbuch, ein Ort, an dem Gedanken festgehalten werden konnten – und doch wusste ich, dass sie genauso flüchtig waren wie der Nebel, der sich vor mir auflöste. Ich lachte, ein leises, kurzes Lachen. Es war, als hätte die Erinnerung selbst diesen Raum geschaffen, nur um ihn ebenso schnell wieder verschwinden zu lassen. Alles war im Wandel. Nichts blieb, wie es war.

Wer oder was bin ich?

Die Worte von Cooley schwebten noch in meinem Kopf, und mit ihnen die Erkenntnis, wie tief unsere Identität doch mit dem verknüpft ist, was wir glauben, dass andere über uns denken. Nicht nur unser Selbstbild hängt an diesem unsichtbaren Faden, sondern auch vieles, was wir tun oder nicht tun. Oft, ohne es zu merken, ordnen wir unser Handeln einem unechten Idealbild unter – einem Bild, das gar nicht unser eigenes ist, sondern von der vermeintlichen Sichtweise der anderen geprägt wurde. Wir schlüpfen in verschiedene Rollen, ohne darüber nachzudenken. Im Internet, bei der Arbeit, unter Bekannten, bei Freunden, vielleicht sogar in unseren eigenen vier Wänden – überall tragen wir eine andere Maske. Diese Rollen haben ihre Vorteile, das ist unbestreitbar. Sie ermöglichen es uns, zu funktionieren, unseren Lebensunterhalt zu verdienen, an Orten zu bestehen, die sich nicht immer nach Zuhause anfühlen. Sie helfen uns, Beziehungen aufrechtzuerhalten, auch zu Menschen, die uns fremd oder unangenehm sind, denen wir uns aber aus irgendeinem Grund nicht entziehen können.

Doch dabei verlieren wir uns. Schicht um Schicht legen sich diese Rollen über unser eigentliches, wahres Ich, bis es nicht mehr zu erkennen ist – falls wir überhaupt jemals wussten, wie es wirklich ausgesehen hat. Wir tragen die Maske der Arbeit nach Hause, die Rolle, die wir bei Freunden spielen, in unsere Liebesbeziehung – oft unbewusst, ohne es zu wollen, ohne es zu bemerken. Und obwohl wir diese Rollen oft mit Bravour spielen, bleibt am Ende ein Gefühl von Leere. Wir fühlen uns unzufrieden, erschöpft, müde, kraftlos und manchmal sogar wertlos. Wie oft setzen wir eigentlich unsere eigenen Überzeugungen aufs Spiel, um einem Bild gerecht zu werden, von dem wir glauben, dass andere es von uns erwarten? Wir verbiegen uns, um zu passen, und merken dabei nicht, wie sehr wir uns von uns selbst entfernen. Unsere eigenen Werte – einst vielleicht sogar klar formuliert und unverrückbar – verschwinden leise in den Schatten der Rollen, die wir jeden Tag spielen oder spielen müssen. Und irgendwann, wenn wir innehalten, stellen wir fest, dass wir den Blick für das, was uns wirklich ausmacht, längst verloren haben.

Egal. Randnotizen…

Egal. Randnotizen, flüchtige Gedanken, nichts von Bedeutung. Ein großer Schluck Kaffee, ein Blick auf die Straße. Der Nachmittag schleicht in den Abend, der Abend in die Nacht, und während der Mond langsam abnimmt, verändert sich die Welt mit ihm – still und doch unaufhaltsam. Irgendwann wird der neue Morgen anbrechen. Und wieder werde ich, nach einem langen Spaziergang, am Fenster stehen und den Kaffee in den Händen halten, der die Kälte der Nacht hinter sich lässt. Ich werde lächeln, leise und für niemanden sichtbar. Es wird ein stiller Moment nur für mich sein. Es wird der Tag sein, an dem ich endlich wirklich begreife, dass ich alles sein kann, was ich will. Ein Tag, der mit den Worten von Paul Arden beginnt: „Es kommt nicht darauf an, wer du bist, sondern was du sein willst.“ Vielleicht kommt dieser Tag spät. Vielleicht fühlt es sich an, als hätte ich zu lange gewartet. Aber er kommt.

Bis dahin aber habe ich mich leider immer wieder an das geklammert, was ich konnte, und an das, was ich glaubte, tun zu müssen. Ein absurdes Schauspiel. Traurig, aber wahr. Genau wie der Glaube, es gäbe so etwas wie Sicherheit im Leben. Die Wahrheit ist: Sicherheit existiert nicht. Sie hat nie existiert. Kontrolle über dein Leben bekommst du erst, wenn du aufhörst, dich an allem festzuhalten, was man dir hinhält – wenn du bereit bist, loszulassen. Wenn du bereit bist, dich zu verändern. Und an diesem Morgen, der sich langsam in den Nachmittag dehnen wird, werde ich am Fenster stehen. Der frische Duft von Kaffee wird die Luft erfüllen, und für einen kurzen Moment wird alles klar sein.

Und vielleicht, an diesem Morgen, werde ich mehr tun, als nur am Fenster stehen. Vielleicht werde ich den ersten Schritt hinaus wagen – hinaus aus den Gedanken, die mich festhalten, hinaus aus den Rollen, die mir nicht mehr passen. Denn die schönsten Geschichten sind die, die von jemandem erzählen, der auszieht, sein Glück zu finden. Es sind Geschichten von Mut, von kleinen und großen Entscheidungen, von Tagen, die mit nichts als einer Idee begannen – und einem Schritt. Nicht jeder, der auszieht, weiß, wohin die Reise geht. Aber jeder, der sich bewegt, spürt, dass Veränderung nur entsteht, wenn man sich ihr hingibt. Vielleicht beginnt auch meine Geschichte mit nichts weiter als dem frischen Duft von Kaffee, der die Luft erfüllt, und dem Gedanken, dass das Glück manchmal schon wartet, sobald man bereit ist, danach zu suchen. Randnotizen…