Bruchhauser Steine
Es war einer dieser Tage, an denen das Wetter unentschlossen wirkte. Nicht zu warm, nicht zu kalt. Der Himmel grau mit kleinen Fenstern aus Licht. Es schien, als könne jeden Moment Regen einsetzen, der sich dann aber doch nicht traute. Die Bruchhauser Steine standen da wie immer. Unbewegt. Unbeeindruckt. Vier Felsen aus Vulkangestein, aufgereiht wie vergessene Figuren in einem uralten Spiel. Der Feldstein, der Bornstein, der Ravenstein und der Goldstein. Namen wie Kapitel aus einem alten Buch, das man nur noch selten aufschlägt. Männer mit Smartphones in Klapphüllen hielten an, richteten ihre Handys auf die Felsen, nickten zufrieden und schossen weitere Fotos. Wahrscheinlich für den WhatsApp-Status. Weiter hinten diskutierten zwei Frauen über die Beschaffenheit der Wege. Man könne sich das Genick brechen, hieß es. Hier müsse dringend etwas getan werden, meinte eine. Die Steine hörten sich alles an. Und sie schwiegen. Wie sie es immer taten. Was Menschen fordern, wünschen oder beklagen, ist ihnen egal. Sie standen schon, als niemand ihnen Namen geben konnte. Und wahrscheinlich stehen sie noch, wenn keiner mehr fragt, wie man am besten hinaufkommt. Zwischen ihren scharfen Kanten wuchs Moos. Vom höchsten Punkt aus, dort, wo der Wind manchmal Geschichten erzählt, schaut man weit ins Sauerland hinab. Es liegt still unter den Wolken, weich und ungeordnet, fast wie gemalt. Man sieht keine Straßen, nur Wälder, Hügel und vereinzelt einige Dächer. Und irgendwo dort unten steht ein Fenster offen. Zwei Liebende liegen auf dem Sofa, die Beine ineinander verschlungen, die Stimmen leise, die Welt draußen längst vergessen. Sie denken nicht an Steine, nicht an Wege oder Wetter, sondern nur daran, dass alles gerade genau so richtig ist.
Schon im letzten Jahr hatte ich mir vorgenommen, die Bruchhauser Steine zu besuchen. Ich hatte ein Foto gesehen, irgendwo online. Ein grauer Felsen unter blauem Himmel, und darunter der Hinweis auf einen Wanderweg. Eine Bekannte hatte mir später ebenfalls davon erzählt. Eigentlich war es nichts Besonderes, aber irgendetwas blieb hängen. Vielleicht war es die Stille auf dem Bild. Vielleicht das Versprechen, für ein paar Stunden allein zu sein. Und so plante ich die Route. Am nächsten Tag joggte ich eine 15-Kilometer-Runde in Zone zwei, ging sieben Kilometer mit Talko spazieren, damit er für die Fahrt ausgelastet war. Dann fuhr ich los. Mein Plan war, pünktlich in Bruchhausen anzukommen, mir die Steine anzusehen und danach nach Schmallenberg weiterzufahren. Dort, in der Poststraße, gab es den Postgrill, einen kleinen Imbiss, in dem ich zu Mittag ganz klassisch eine Currywurst mit Pommes essen wollte. Was ich allerdings nicht bedacht hatte, war, dass zwischen den Steinen und Schmallenberg über vierzig Kilometer Strecke lagen. Keine Autobahn, keine schnelle Verbindung. Nur Landstraßen, Kurven, Baustellenampeln, Orte, deren Namen ich noch nicht wirklich kannte. Egal.
Talko und ich fuhren los. Wir tankten später an einer dieser kleinen Dorftankstellen, wo man nur bar zahlen konnte und die Frau hinter der Kasse „einen Moment bitte“ sagte, ohne wirklich aufzusehen. Ich kaufte noch zwei Flaschen Wasser. Mit der Zeit wurde die Landschaft weiter. Felder, die sich in Hügel schoben, kleine Baumgruppen, Höfe mit Satellitenschüsseln an der Wand. Weiße Putzbauten mit Dächern aus Schiefer. Ein Mann schob einen Kinderwagen über die Straße. Auf dem Bürgersteig stand eine ältere Frau mit einem Schlüsselbund in der Hand. Sie wartete auf nichts und niemanden. Ich fuhr weiter, bog einmal falsch ab, fuhr zurück und wurde geblitzt. Da beschloss ich, keine Eile mehr zu haben. Ich hatte doch Zeit.
Ankunft
Schon auf dem Parkplatz wurde mir klar, dass es nichts werden würde mit der Stille. Er war fast voll. Autos standen dicht an dicht, als wäre hier ein Volksfest. Da Familien-Vans, dort Kleinwagen mit Wanderrucksäcken im Kofferraum. Dazwischen Menschen in Funktionskleidung, Kinder mit Capri-Sonnen in der Hand, Männer mit Sonnenhüten, die ihre Kofferraumdeckel so langsam wieder schlossen, als hinge ihr Leben davon ab. Oh ja, ich hatte mir das anders vorgestellt. Vielleicht naiv von mir. Vielleicht war ich einfach nur dümmer als sonst. Als ich ausstieg, stiegen auch Familien aus, klopften Sandalen ab, griffen nach Rucksäcken. Ein Kind ließ einen Apfel auf den Boden fallen, ein Vater fluchte halblaut. Dazwischen überall Stimmen, Türen, Gelächter. Das Info-Center lag direkt am Einstieg. Holzbau, große Fenster, alles hell, alles ordentlich. Der Zugang zu den Steinen war nicht kostenlos: 6,50 Euro Eintritt, 3,50 Euro fürs Parken. Auf einem Schild stand: Kein Zugang ohne Ticket. Ich band Talko an einer Bank fest, ein paar Schritte entfernt. Er setzte sich, ruhig, aufmerksam, die Leine locker zwischen Pfosten und Pfote. Ich reihte mich ein. Sechs Leute standen vor mir. Eine Familie, zwei Männer in kurzen Hosen mit Infomaterial unterm Arm. Hinter mir telefonierte eine ältere Frau.
Ich beobachtete, wie ein älterer Mann zu Talko ging. Er beugte sich runter, tätschelte ihm den Kopf. Ich hätte gedacht, dass jemand in dem Alter es besser weiß. Kurz darauf kam eine Frau, ebenfalls älter. Sie streichelte ihm über den Rücken, als würde er ihr gehören. Ich rief: „Fassen Sie meinen Hund bitte nicht an. Der ist nicht zum Streicheln hier.“ Deutlich. Nicht laut, aber scharf genug. Keine Entschuldigung, kein Lächeln. Die Blicke danach waren eindeutig. Wahrscheinlich hielten sie mich für unfreundlich. Oder arrogant. Oder einfach nur für ein Arschloch. Es war mir egal. Wirklich. Als ich an der Reihe war, zahlte ich zehn Euro. Bedankte mich beim Mann an der Kasse, nahm mein Ticket, ging zurück zu Talko. Er wartete noch immer. Die Ohren leicht nach vorn, der Blick ruhig. Ich löste die Leine und wir gingen los.
Die Bruchhauser Steine liegen im Hochsauerland, irgendwo zwischen Olsberg und dem Rest der Welt. Vier Felsen, aufgereiht auf einem bewaldeten Bergrücken, 728 Meter über dem Meer. Feldstein, Bornstein, Goldstein, Ravenstein. So heißen sie, und ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung warum. Vielleicht waren es einmal Namen, vielleicht Legenden. Heute sind sie markiert, kartiert und werden immer wieder besucht.
Entstanden ist das Ganze vor etwa 380 Millionen Jahren. Vulkanisches Gestein, durch Druck und Zeit an die Oberfläche gedrückt, vom Wind geformt und vom Regen gezeichnet. Wer sich für Erdgeschichte interessiert, findet hier Spuren von damals. Wer einfach nur wandert, sieht Felsen. Große, dunkle, raue Felsen, die tatsächlich so wirken, als hätte sie jemand absichtlich dort abgesetzt. Der höchste von ihnen, der Feldstein, ragt fast 92 Meter in den Himmel. Früher soll dort oben einmal eine Walburg gestanden haben, Reste davon findet man anscheinend immer noch. Rundherum gibt es Wälder, soweit das Auge reicht. Hänge, Wege, ein kleines Tal, durch das man hinaufsteigt. Im Frühjahr voller Buschwindröschen, im Sommer trocken und hell, im Herbst eine Orgie aus Braun, Gelb und Licht. Man hat das Ganze unter Schutz gestellt. Ein Naturdenkmal. Europäisches Schutzgebiet. Und dann stand ich da. Am Fuß des Weges, das Ticket in der Tasche, Talko an der Leine. Es ging bergauf, gleichmäßig, nicht steil, aber stetig. Schon nach den ersten Metern hatte ich die ersten Wanderer überholt. Sie grüßten freundlich. Ich grüßte freundlich zurück.

Der Rundweg
Der Rundweg ist etwa 3,6 Kilometer lang. Er führt einmal um die Steine herum, steigt an, fällt ab, zieht sich durch Wald, über Wurzeln und Gestein, vorbei an Lichtungen. Mal geht es leicht bergauf, dann wieder etwas steiler, aber nie wirklich anstrengend. Wer halbwegs fit ist, kommt gut zurecht. Wer will, kann anhalten, durchatmen und dann weitergehen. Und das haben einige getan. Ich allerdings nicht. Der Weg ist gut ausgeschildert, aber nicht überinszeniert. Keine bunten Schilder, keine Animation. Stattdessen stehen an verschiedenen Stellen kleine Tafeln, leise Hinweise, zurückhaltend und informativ. Man erfährt etwas über das Alter der Felsen, über Gesteinsschichten, über Tiere, die hier leben oder über die Pflanzen, die zwischen Steinen wachsen. Wer sich Zeit nimmt, kann etwas lernen.
Ich blieb ein paarmal stehen, las, nahm das mit, was hängen blieb. Aber ich war nicht in der Stimmung, alles aufzunehmen. Zu viele Stimmen, zu viele Menschen, die sich laut darüber wunderten, wie groß das hier alles sei, wie alt, wie steinig. Ich weiß, das ist mein Problem. Ich kann das alles verstehen. Aber ich ertrage es nicht. Die Menschen, ihre Anwesenheit, ihre Stimmen. Ich habe kein Talent dafür, andere Menschen auszublenden. Ihre Gespräche kleben mir im Ohr, ihre Präsenz im Rücken. Ich merke sofort, wenn jemand hinter mir geht, zu nah, zu laut, zu atemlos. Und trotzdem war der Weg war schön. Auch still, wo es ging. Offen, wo der Wald dem Gelände Raum ließ. Dann tauchten sie auf. Zuerst der Bornstein, kantig, grau, mit einem zerklüfteten Profil. Dann der Goldstein, fast rundlich, wie in sich zusammengesunken. Der Ravenstein, hoch aufragend, mit einer dunklen Narbe an der Flanke. Und zuletzt der Feldstein, gewaltig, senkrecht, fast ehrfurchtsvoll. Sie stehen da wie etwas, das übrig blieb, als die Welt sich weitergedreht hat. Nicht wirklich dekorativ, nicht spektakulär im klassischen Sinn. Aber spürbar alt. Schwer. Unerreichbar in ihrer Ruhe.
Ihre Oberflächen sind rau, mit Rillen, Brüchen, Einschnitten, die sich wie Narben durch das Gestein ziehen. An manchen Stellen wächst Moos. In kleinen Vertiefungen sammeln sich Blätter. Kein Schild kann erklären, wie sie wirklich wirken, wenn man davorsteht. Und beschreiben kann ich das erst recht nicht. Man umrundet sie fast vorsichtig, als wolle man sie nicht stören. Und vielleicht ist genau das der Sinn dieses Rundwegs. Es geht gar nicht darum, oben anzukommen, sondern darum herumzugehen.
Nach Hause.
Das Ende kam schneller, als ich erwartet hatte. 3,6 Kilometer sind keine Strecke. Nicht für mich. Nicht an so einem Tag. Ich hatte kaum das Gefühl, angekommen zu sein, da war ich schon wieder auf dem Rückweg. Kein Höhepunkt, kein Moment zum Stehenbleiben, kein dramatischer Abschluss. Nur der Weg, der wieder flacher wurde, das Schild mit dem Pfeil, das Auto in der Ferne. Ich ging die letzten Meter fast beiläufig. Kein Gedanke, der sich festhielt. Kein Bild, das bleiben wollte. Ich löste Talko von der Leine, öffnete den Kofferraum, er sprang hinein, drehte sich einmal und legte sich hin. So wie immer, wenn er weiß, dass es jetzt vorbei ist. Ich stieg ein, fuhr langsam vom Platz. Während ich den Wagen auf die Straße lenkte, reihten sich neue Autos neben die, die schon da gewesen waren. Immer mehr. Stimmen, Türen, scharrende Reifen im Schotter. Das mit der Currywurst ließ ich sein.
Ich hatte keine Lust mehr auf weitere Orte. Die Landstraße war leer. Felder zogen vorbei, Hügel, ein paar Höfe mit wetterfleckigem Putz. Talko schlief. Auf der Autobahn tönte „Silent Lucidity“ von Queensrÿche aus den Boxen.
Of someone close to you leaving the game of life
So here it is, another chance
Wide awake you face the day, your dream is over
Or has it just began…
Ich hörte zu. Nicht nebenbei. Nicht beiläufig. Ich hörte wirklich zu. Und irgendwo zwischen den Zeilen war er plötzlich da, ein Gedanke, den ich nicht gesucht hatte. Vielleicht war es genau das. Diese Zeile. Dieser Moment. Dieses Lied. Vielleicht war das das Zeichen. Nicht draußen. Sondern in mir. Ich fuhr weiter. Nicht schneller. Nicht anders. Nur weiter.